EU-Parlamentarier Lothar Bisky spricht über die aktuelle Linke in Europa und Bolivien

Maria von Stern, Europe Online

Interview. Lothar Bisky ist seit Juni 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments für die deutsche Partei „Die Linke“ und Mitglied der Fraktion GUE/NGL. Im EOL-Interview spricht der Filmwissenschaftler über seine Ziele, die vernünftigen Ansichten der Kirche und die Schattenseiten der Europäischen Union. Die Krise seiner Partei ist für den 68-Jährigen eine „ideologische Schweinegrippe“.

EOL: Sie sind seit Juni 2009 Europaparlamentarier. Welches Ziel verfolgen Sie?

Bisky: Zurzeit ist es das Kapital, vor dem die Europäische Union auf den Knien liegt und brav nickt. Wir brauchen aber über die Wirtschaftsunion hinaus auch eine Sozialunion. Deshalb setze ich mich für die soziale Fortschrittsklausel ein, die genauso in einen Vertrag gehört wie der Binnenmarkt. SPD und Grüne haben zugesagt, dass sie uns dabei unterstützen, und ich hoffe, sie lassen uns nicht hängen.

EOL: Bis wann möchten Sie ihr Anliegen umgesetzt haben?

Bisky: So schnell wie möglich! Die Gewerkschaften drücken und wir suchen und finden ständig Verbündete. Sogar die Kirchen haben da vernünftige Ansichten.

EOL: Menschen in anderen Teilen der Welt geht es weit schlechter als den Bürgern der Europäischen Union. Wie können Sie da ruhigen Gewissens mehr Wohlstand fordern?

Bisky: Als Marxist lebe ich mit widersprüchlichen Theorien, einfach ist gar nichts. Aber ich rede nicht von einem sozialen Schlaraffenland, sondern von dem Ziel, dass jeder in Würde leben kann, nicht wie jetzt, dass in Deutschland jemand erfriert, weil er auf der Straße leben muss, oder dass alleinerziehende Mütter automatisch in die Armut abrutschen und damit die Karriere ihrer Kinder fest steht: es wird keine geben. Ich rede nicht von Verschwendung, davon haben wir genug.

Kleine Menschen in kleinen Autos hinter ihren kleinen Lenkrädern

EOL: Wo?

Bisky: Jeden Morgen im Stau zum Beispiel! Wir brauchen die gemeinsame Nutzung von Autos. Bei uns sitzt jeder kleine Mensch in seinem kleinen Auto hinter seinem kleinen Lenkrad. Doch statt in öffentliche Verkehrsmittel zu investieren, wird wie in Berlin, wo ich lebe, die Bahn privatisiert und natürlich, Straßenbahnen fallen weg.

EOL: Würden Sie auch sagen, dass die Wähler links der Mitte eine Tendenz zur Selbstzerfleischung haben? Kommunisten und Sozialdemokraten zerlegten sich gegenseitig, statt den Nationalsozialisten vereint entgegen zu treten. Und die Abspaltung der WASG von der SPD hat zur Halbierung der SPD geführt.

Bisky: Es stimmt, die Tendenz ist offensichtlich. Leider neigen wir, die links der Mitte, auch zu sehr starren Strukturen und Regelwerken.

EOL: … und landen am Ende bei Tscheka und Stalin…

Bisky: Ja, aber das ist wirklich extrem. Wir sind alle Pädagogen, ganz große Volkspädagogen. Meine Generation ist noch die der Ideologen. Ich setze auf die Jüngeren, die es besser machen können und ich sehe linke Grüne, linke Sozis und, ja, linke Linke mit Freude. Die sind schon dabei, diese Grenzen aufzubrechen.

Finnland: Das Schulsystem der DDR – nur ohne Fahnenappell

EOL: Die DDR ist gescheitert und ihre Schattenseiten werden langsam aber sicher aufgearbeitet. Was bleibt denn Positives von ihr zurück?

Bisky: Die DDR wollte so wie sie war, keiner mehr, bis auf ein paar wenige. Aber es war auch nicht alles schlecht, beispielsweise das Schulsystem haben die Finnen kopiert, nur den Fahnenappell weggelassen und heute sind sie bei der Pisa-Studie an der Spitze. Platzeck ist nach Finnland gefahren, um sich das Schulsystem anzusehen und ich hab ihm gesagt, er soll sich an seine eigene Schulzeit erinnern. Aber bei der Wende lief einiges schief. Das Volk hat sich keine neue Verfassung gegeben, Ostdeutschland wurde einfach aufgenommen. Das ist eine verpasste Gelegenheit.

EOL: Sie sind heute aus Bolivien zurückgekommen, wo Evo Morales im Dezember zum Präsidenten gewählt wurde. Haben Sie aus Lateinamerika Tipps mitgenommen für Europa, damit wir zukünftige Gelegenheiten nicht verpassen?

Bisky: Die MAS ist eine Bewegung aus vielen verschiedenen Strömungen: den Frauen, der Bergarbeitern, den jungen Männer und so weiter. Dieser Strom trägt Evo Morales und er führt durch seine natürliche Autorität als eine Art Stammeshäuptling, unheimlich kitschig. Ich sollte dort etwas erzählen über Parteistrukturen, aber das habe ich abgelehnt, weil unser System nicht dorthin gehört. Ich finde es sehr wichtig, dass in Lateinamerika die indigenen Völker endlich zu Wort kommen. Bisher haben andere Länder das letzte Gramm Nickel raus geholt und Profite gemacht, jetzt sagt Morales: die Bodenschätze behalten wir selbst. Ich hoffe, sie schmeißen nicht alle Kultur weg, um so blöde zu leben wie wir.

EOL: Sie übertreiben.

Bisky: Wir haben ihre Vorfahren gekillt, Rohstoffe ausgebeutet und kommen jetzt mit Werten an. Die EU ist arrogant, und wir haben alle die jämmerliche Bauchlandung in Kopenhagen erlebt. Vorher hat Barroso noch getönt, dass jetzt der große Umschwung kommen würde. Nichts! Evo Morales hat zum alternativen Weltklimagipfel eingeladen, da werde ich teilnehmen.

EOL: Zum Abschluss ein Blick nach Hause, nach Deutschland: Oskar Lafontaine ist zurückgetreten. Ist das das Ende der Partei „Die Linke“?

Bisky: Nein, meine Partei macht gerade nur eine ideologische Schweinegrippe durch. Die geht wieder vorbei.