Harte Zumutungen

Schwedens EU-Präsidentschaft auf dem Prüfstand Ein Beitrag für „Disput“, August 2009

»Die Herausforderungen annehmen« – so betitelt die schwedische EU-Präsidentschaft ihr Arbeitsprogramm für das zweite Halbjahr 2009 und versucht, den Eindruck von Entschlossenheit zu vermitteln. Ihr erster Schwerpunkt ist »Arbeit, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit«, um die Wirtschafts- und Finanzkrise langfristig zu überwinden. Weitere Punkte sind Klima, Umwelt und Energie (UN-Klimagipfel in Kopenhagen), ein weiteres Fünf-Jahres-Programm zur Schaffung des »Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts«, eine Ostseestrategie, die Weiterentwicklung der »Östlichen Partnerschaft« im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik und die Ratifizierung des Lissabon-Vertrages.

Auch wenn der schwedische Ministerpräsident Frederik Reinfeldt somit viel Ehrgeiz zur Schau stellt – ich bezweifele, dass diese Ratspräsidentschaft sehr viel bewegen kann. Am 2. Oktober 2009 stimmt Irland erneut über den Vertrag von Lissabon ab. In Umfragen liegt das Ja derzeit klar vorn. Doch wenn es anders kommen sollte, vertieft sich die Legitimationskrise der EU dramatisch. Die Linksfraktion im Europaparlament (GUE/NGL) und DIE LINKE in Deutschland werden die irische Nein-Kampagne nach Kräften unterstützen.

Selbst bei einem Ja-Sieg in Irland ist die EU für den größten Teil der schwedischen Ratspräsidentschaft nur bedingt handlungsfähig. Die neue Europäische Kommission wird wohl nicht vor dem Ausgang des irischen Votums ernannt werden. Die erneute Kandidatur des derzeitigen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso ist hoch umstritten, auch wenn er von den Staats- und Regierungschefs der EU einstimmig nominiert wurde. Sozialdemokraten und Liberale im EP machen seine Wahl von der Erfüllung bestimmter Kriterien abhängig. Die Sozialdemokraten fordern von ihm unter anderem ein klares Engagement der neuen Kommission für eine »Soziale Fortschrittsklausel« als Protokoll zu den Europäischen Verträgen. Dies hat die Kommission bislang entschieden abgelehnt.

Linksfraktion und Grüne lehnen Barrosos erneute Kandidatur rundheraus ab. SPD, Grüne und DIE LINKE haben sich in jeweils eigenen gemeinsamen Positionspapieren mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund vor der Europawahl verpflichtet, keine Kommissare zu wählen, die sich nicht für Initiativen zu einem sozialen Europa und insbesondere für eine soziale Fortschrittsklausel aussprechen. Sie soll den Vorrang von Grundrechten und insbesondere des Streikrechts und der Tarifvertragsfreiheit vor den unternehmerischen Freiheiten des EU-Binnenmarkts im EU-Primärrecht verankern. Wir sind gespannt, ob Sozialdemokraten und Grüne gegenüber den Gewerkschaften Wort halten, wenn über die EU-Kommissare im Europaparlament abgestimmt wird.

Die neue EU-Kommission wird somit vielleicht erst am 1. Dezember 2009 ins Amt kommen. Nur die Kommission hat das Recht, EU-Gesetzgebung vorzuschlagen. Deshalb wird sich die schwedische Präsidentschaft eher auf Themen und Projekte konzentrieren, die keine neue EU-Gesetzgebung erfordern. Die nachfolgende spanische Präsidentschaft (1. Januar bis 30. Juni 2010) darf dann den entstandenen Gesetzgebungsstau abarbeiten.

In die Verhandlungen über das Nachfolgewerk zum Kyoto-Protokoll auf dem UN-Klimagipfel im Dezember 2009 in Kopenhagen geht die Ratspräsidentschaft mit dem bereits vereinbarten Angebot der EU: Reduzierung des CO2-Ausstoßes um 30 Prozent bis 2020, wenn andere entwickelte Länder dabei mitziehen, ansonsten um 20 Prozent. Die Umweltorganisationen fordern ein Reduktionsziel von mindestens 40 Prozent bis 2020 und energische Klimaschutzmaßnahmen in den ersten fünf Jahren nach 2012. Greenpeace zeigt der schwedischen EU-Präsidentschaft bereits die Gelbe Karte, weil sie die Themen Klima-Finanzierungsfonds, Instrumente und Mechanismen für die ärmeren Länder durch die reicheren und den Schutz der Wälder als CO2-Senken nicht angeht. Die Linksfraktion im EP wird gemeinsam mit sozialen Bewegungen und Klimaschutzbündnissen versuchen, den öffentlichen Druck für eine wirksame und gerechte Klimapolitik zu verstärken.

Inhaltlich ist das schwedische Arbeitsprogramm zu großen Teilen gegen das Projekt eines sozialen Europa gerichtet. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) hat in seinem Memorandum an die schwedische EU-Präsidentschaft ein ausgeweitetes Anti-Krisen-Programm von einem Prozent des EU-Bruttoinlandprodukts gefordert. Es soll Investitionen in den sozial-ökologischen Umbau, Maßnahmen zum Erhalt und zur Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verbesserung von Qualifikation und Bildung beinhalten. Der EGB schlägt weiterhin eine Reihe von Gesetzesmaßnahmen vor (zum Beispiel die Überarbeitung der EU-Entsenderichtlinie zur Durchsetzung des Prinzips »Gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit am gleichen Ort«, Richtlinien zur Begrenzung der Unterauftragsvergabe, zur Stärkung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz und zur Vereinbarkeit von Erwerbs- und Privatleben). Von all dem will die Präsidentschaft nichts wissen.

Sie will lediglich die bisherigen, weitgehend nur nationalstaatlichen Konjunkturmaßnahmen der Mitgliedstaaten auf ihre Wirksamkeit prüfen und einen Dialog darüber anstoßen. Damit wird das totale Versagen der EU fortgesetzt, eine gemeinschaftliche systemische Antwort auf die Wirtschafts- und Finanzkrise zu entwickeln. In der Beschäftigungspolitik soll alles beim Alten bleiben (Flexicurity, Förderung der Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer etc.). Zum Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung findet die Präsidentschaft zwar ein paar warme Worte, schlägt aber trotz Krise kein Maßnahmenprogramm vor.

Hingegen macht sie im Chor mit der amtierenden Europäischen Kommission und dem Rat der EU-Wirtschafts- und -Finanzminister den raschen Abbau der krisenbedingt rasch angestiegenen Haushaltsdefizite der Mitgliedstaaten zu ihrem Top-Thema. Ein zügiger Schuldenabbau unter die Maastricht-Grenzwerte (drei Prozent Haushaltsdefizit, 60 Prozent gesamtstaatliche Schulden) soll spätestens ab 2011/12 einsetzen. Damit würde aber selbst die von einigen Optimisten ersehnte leichte wirtschaftliche Erholung ab 2010/2011, für die es wenig Anzeichen gibt, sofort wieder abgewürgt, die Krise verlängert und verschärft.

Was ein solcher rascher Schuldenabbau bedeutet, kann man in Lettland studieren. Die lettische Regierung musste sich gegenüber Internationalem Währungsfonds und EU verpflichten, das Haushaltsdefizit von derzeit knapp zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes um fünf bis sieben Prozent bis 2012 zu reduzieren, um Nothilfekredite zu erhalten. Die Gehälter im öffentlichen Dienst wurden in zwei Schritten um 35 Prozent gekürzt und in der Privatwirtschaft um bis zu 50 Prozent gedrückt, die Mindestlohngrenze um 23 Prozent gesenkt, die Mehrwertsteuer wurde erhöht, die Renten wurden um zehn Prozent beschnitten und der Sozialetat erheblich zusammengestrichen – und das bei einem Minuswachstum von 18 Prozent. Für die Rettung der Banken und Aktionäre müssen Erwerbstätige, Rentner/innen und Arbeitslose bluten. In anderen EU-Ländern – Irland, Estland, Litauen, Ungarn, Rumänien, Griechenland – haben die Regierungen bereits mit einem ähnlichen »Sparkurs« und Lohndrückerei begonnen. Und in Deutschland könnte dies nach der Bundestagswahl bevorstehen.

Die Linksfraktion im EP wird versuchen, eine breite öffentliche Diskussion über diesen Katastrophenkurs der schwedischen Präsidentschaft und der EU-Institutionen anzufachen. Gemeinsam mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen wollen wir uns für wirtschafts-, beschäftigungs-, umwelt- und sozialpolitische Alternativen engagieren und zum Aufbau eines europaweiten Widerstands beitragen.

Sabine Wils ist Leiterin der Delegation DIE LINKE im Europäischen Parlament. Sie gehört zur Linksfraktion GUE/NGL, die aus 35 Abgeordneten aus 13 EU-Mitgliedstaaten besteht.