“Wenn wir schreiten Seit‘ an Seit’…“

Klaus Dräger

Der DGB, die SPD und die Europawahl 2009

Am 5. Mai 2009 – Karl Marx‘ Geburtstag – haben Michael Sommer (DGB-Vorsitzender), Frank Bsirske (ver.di-Vorsitzender), Andrea Nahles (SPD-Vizevorsitzende), Olaf Scholz (Bundesarbeitsminister) und Martin Schulz (Fraktionsvorsitzender der SPE im Europäischen Parlament) ein gemeinsames Positionspapier von DGB und SPD „Für ein Europa des sozialen Fortschritts“ vorgestellt.
Hurra: Endlich ist das „unverbrüchliche Bündnis“ von SPD und Gewerkschaften wieder hergestellt. Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer in Europa, hört die Signale: Das soziale Europa kommt – dank des verlässlichen Einsatzes der Sozialdemokratie an der Seite der Gewerkschaften.
Anlass des gemeinsamen Positionspapiers sind die umstrittenen Urteile des Europäischen Gerichtshofs (Viking Line, Laval, Rüffert, Luxemburg) zum Streikrecht, Tariftreuegesetzen und der Auslegung der EU-Entsenderichtlinie (siehe auch Mileva/Dräger in Sozialismus 7-8/2008). Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften haben diese Urteile von Anfang an scharf kritisiert. Den lange bekannten Forderungen der Gewerkschaften schließt sich die SPD nun offiziell an.
So kritisieren DGB und SPD nun gemeinsam: „Der Gerichtshof hat in diesen Entscheidungen die Grundfreiheiten des Binnenmarktes, wie insbesondere die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit, über zentrale soziale Grundrechte, wie etwa die Tarifautonomie und das gewerkschaftliche Streikrecht gestellt. Darüber hinaus hat er staatliche Maßnahmen – wie etwa Tariftreuegesetze – für gemeinschaftsrechtswidrig erklärt.“
Die geltenden Europäischen Verträge sind für DGB und SPD nicht länger eine heilige Kuh. Vielmehr sollen sie geändert werden: „Die SPD und der DGB mit seinen Mitgliedsgewerkschaften setzen sich für eine Klarstellung im EU-Primärrecht dergestalt ein, dass weder wirtschaftliche Grundfreiheiten noch Wettbewerbsregeln Vorrang vor sozialen Grundrechten haben. Die sozialen Grundrechte müssen im Konfliktfall vorgehen. Im Primärrecht muss durch eine soziale Fortschrittsklausel klargestellt werden, dass die EU nicht nur dem wirtschaftlichen, sondern auch dem sozialen Fortschritt verpflichtet ist. Sozialer Fortschritt bedeutet konkret die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in Europa. Es muss festgestellt werden, dass die sozialen Grundrechte – wie Grundrechte überhaupt – Vorrang gegenüber den wirtschaftlichen Grundfreiheiten haben. Eine soziale Fortschrittsklausel sollte in Form eines rechtlich verbindlichen Protokolls zum ‚Sozialen Fortschritt‘ Bestandteil der Europäischen Verträge werden.“
Na ja, eines stimmt leider schon: Die beste Gelegenheit, für die soziale Fortschrittsklausel wirksam Druck zu machen, ist schon verstrichen. Am 28. April 2008 gab der Deutsche Bundestag sein Votum über den Vertrag von Lissabon ab. Damals stimmte die SPD für die Ratifizierung. Aber mal ehrlich: Im April 2008 hatte die SPD doch noch gar nicht wissen können, was sie heute weiß.
Was Binnenmarktfreiheiten, Grundrechte und Tariftreue-Regelungen angeht, setzt der Lissabon-Vertrag schlicht die Regelungen der geltenden Europäischen Verträge fort: Im Zweifel haben die Binnenmarktfreiheiten und der Wettbewerb Vorrang. Böse neoliberale Medien haben einfach diese klaren Sachinformationen verschleiert. In Gesellschaft und Wirtschaft herrschte ein Klima gegen die guten Absichten der SPD, ein soziales Europa aufzubauen. Sonst hätte sie doch aus sozialdemokratischer Sicht die Abstimmung im Bundestag mit einem Junktim versehen: Keine Zustimmung zum Vertrag von Lissabon ohne die von EGB und DGB geforderte soziale Fortschrittsklausel! So hatten es ja einige Sozialdemokraten in Schweden und Dänemark versucht, aber – leider, leider – bei weitem halt nicht alle, und insgesamt zu wenige, um die Ratifizierung in diesen Ländern zu verhindern. Wer das nicht so sehen will, muss doch ein linker Fundamentalist oder Schlimmeres sein.
Aber jetzt geht es voran: Vor und nach der Europawahl 2009 wird kein Pardon mehr gegeben, die soziale Fortschrittsklausel muss her! Martin Schulz als neuer Anwärter auf den deutschen Posten als EU-Kommissar wird die Eurokraten in Brüssel schon auf Linie bringen. Und Frank Walter Steinmeier wird als Bundeskanzler einer neuen SPD geführten Bundesregierung im Europäischen Rat Deutschlands Gewicht als „Nettozahler“ der Europäischen Union in die Waagschale werfen, um das Protokoll zum „Sozialen Fortschritt“ durchzudrücken – heiliges Indianerehrenwort darauf!
War da noch was? Ach ja, das Europäische Parlament: „SPD und der DGB mit seinen Mitgliedsgewerkschaften sind der Auffassung, dass eine klare politische Vorgabe erforderlich ist, um sozialen Fortschritt in Europa sicherzustellen. Wir begrüßen deshalb, dass das Europäische Parlament auf Initiative der Sozialdemokratischen Fraktion eine entsprechende Entschließung auf den Weg gebracht hat. Diese Entschließung des Europäischen Parlamentes vom 22. Oktober 2008 zu den Herausforderungen für Tarifverträge in der EU (sog. Andersson-Bericht) stellt einen ersten, wichtigen Schritt dar.“
Na ja, ein „erster wichtiger Schritt“ war der Andersson-Bericht schon, aber aus heutiger SPD-Sicht leider doch nicht so ganz zufrieden stellend. Die gemeinsame Forderung von SPD und DGB nach einer „sozialen Fortschrittsklausel“ und dem Vorrang von Grundrechten vor Binnenmarktfreiheiten kommt darin noch nicht vor – tut uns leid. Das war damals halt so: Im Europäischen Parlament gibt es ja auch eine Linksfraktion (GUE/NGL) – die mit der „heißen Luft“, dem Föhn und so –, Sie wissen schon, Sie kennen ja die SPD-Plakate. Die stellen immer so unrealistische, maximalistische Forderungen.
Wie konnte die SPD schon im Oktober 2008 wissen, dass sie später für den Europawahlkampf 2009 ganz zentral für die soziale Fortschrittsklausel an der Seite der Gewerkschaften werben müsste? Das konnte damals doch niemand von der SPD im Ernst erwarten – es geht in „Europa“ doch immer um Ausgewogenheit, und nicht um Parteinahme für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe, oder etwa nicht? Aber jetzt mal andererseits: Wenn Michael Sommer und Frank Bsirke einfach bei der Europawahl 2009 den Daumen senken sollten, wenn die SPD die Gewerkschaften nicht unterstützt – was wäre dann?
Wie auch immer: Damals waren die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament – gewiss zum Bedauern der SPD aus heutiger Sicht – doch noch glatt der Meinung, dass „im Primärrecht das Gleichgewicht zwischen den Grundrechten und den wirtschaftlichen Freiheiten erneut festgestellt wird, um so ein Wettrennen um niedrigere Sozialstandards zu verhindern.“ (Andersson-Bericht, Ziffer 33). Wohlgemerkt: „Gleichgewicht“ zwischen Grundrechten und Unternehmerfreiheiten – genauso wie in der Argumentation des Europäischen Gerichtshofs in den angesprochenen Urteilen, dass Grundrechte eben gegen die Wirtschaftsfreiheiten abgewogen werden müssen. Damals stellte die Linksfraktion im EP einen Änderungsantrag (Nr. 23) dazu: „dass im Primärrecht der Vorrang sozialer Grundrechte vor den wirtschaftlichen Freiheiten des Binnenmarktes erneut festgestellt wird.“
Dieser Antrag der linken „Föhntruppe“ erhielt nur 98 Stimmen. Dagegen stimmten 562 Europaabgeordnete – nicht nur Konservative und Liberale, sondern fast die gesamte Sozialdemokratische Fraktion (SPE). Darunter waren auch viele Sozis, die ihr Image als Unterstützerinnen gewerkschaftlicher Positionen sonst sorgsam pflegen: unter anderem die MdEP’s Karin Jöns, Udo Bullmann, Evelyne Gebhardt, Lissy Gröner, Jo Leinen, Bernhard Rapkay, Dagmar Roth-Behrendt – und ein gewisser Abgeordneter Schulz.
Wie, etwa dieser Martin Schulz, der Fraktionsvorsitzende der SPE? Von ihm heißt es im gemeinsamen Positionspapier: „Eine Klarstellung zugunsten sozialer Grundrechte im EU-Primärrecht ist die zentrale Anforderung von SPD und dem DGB mit seinen Mitgliedsgewerkschaften an die neue EU-Kommission und ihren Präsidenten. Als SPD-Kandidat für die Position des deutschen EU-Kommissars in der neuen Kommission wird Martin Schulz im Falle seiner Ernennung als Kommissar diese Forderungen auch mit Nachdruck in die praktische Politik der Europäischen Kommission einbringen.“ Na ja, mal ganz unter uns: Wie konnte Martin Schulz denn diese ihm angediente Aufgabe als Vorkämpfer für Arbeiterrechte in der Europäischen Kommission schon im Oktober 2008 bei der Abstimmung über den Andersson-Bericht auch nur ahnen?
Dann kam doch diese „Föhntruppe“ von der Linken damals auch noch mit einem anderen Antrag (Nr. 25), um die Position des Europäischen Gewerkschaftsbunds und des DGB zu unterstreichen: „fordert den Rat auf, als erste Abhilfemaßnahme eine Klausel über den sozialen Fortschritt als verbindliches Protokoll in die bestehenden Verträge aufzunehmen.“ Sicher, aus heutiger SPD-Sicht ist es ja vermutlich bedauerlich, dass die SPD-Europaabgeordneten Norbert Glante, Lissy Gröner, Jutta Haug, Bernhard Rapkay, Dagmar Roth-Behrendt, Mechthild Rothe, Barbara Weiler und Ralf Walter rundheraus dagegen stimmten. Die anderen Sozialdemokraten enthielten sich wenigstens vornehm und ganz ausgewogen. Wer weiß, wie Konservative und Liberale im Europäischen Parlament sich verhalten hätten, wenn die SPE sich etwa ganz provokativ auf die Seite der Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer und Gewerkschaften gestellt hätte – nicht auszudenken! Verstehen Sie das doch bitte, liebe Wählerinnen und Wähler!
Aber jetzt kommt die „neue Zeit“: „Wir können auch anders!“ Die SPD wird ganz sicher gleich bei der nächsten Gelegenheit im Bundestag beantragen, dass Deutschland sich für ein Protokoll zu den Europäischen Verträgen zum „Sozialen Fortschritt“ einsetzt und eine neue EU-Regierungskonferenz zur Vertragsreform beantragt, eine Verbesserung der EU-Entsenderichtlinie anschiebt und eine Erklärung des Europäischen Rates und nachfolgend eine gemeinsame Vereinbarung von Europäischem Parlament, Kommission und Rat lanciert, mit der sich diese auf den sozialen Fortschritt verpflichten.
Die SPD wird sofort die nötigen Gesetzesinitiativen auf Bundes- und Landesebene einbringen, damit Maßnahmen auf Ebene des Bundes und der Bundesländer zur Durchsetzung des Prinzips „Gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ in Angriff genommen werden: Tariftreueklauseln in den Vergabegesetzen der Bundesländer einführen, die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtern, die Aufnahme aller Branchen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz in Deutschland auf den Weg bringen und einen gesetzlichen Mindestlohn einführen.
Wie, Sie glauben das etwa nicht? Franz Müntefering und Andrea Nahles, Frank Walter Steinmeier und Peer Steinbrück werden auf die Taschenuhr von August Bebel einen heiligen Eid schwören – versprochen. Angela Merkel soll sich schon mal warm anziehen.
Und die kleinbürgerlichen Grünen auch. Die wollen in ihrem Europawahlprogramm doch tatsächlich von einer „sozialen Fortschrittsklausel“ nichts wissen, diese gewerkschaftsfernen Ignoranten. Stattdessen schreiben sie: „Die jüngeren Urteile des Europäischen Gerichtshofes zum Verhältnis der Dienstleistungsfreiheit und den sozialen Grundrechten, wie Streikrecht, nationale arbeitsrechtliche Standards und Tarifverträge, haben gezeigt, dass dieses Verhältnis dringend auf europäischer Ebene gesetzlich klargestellt werden muss. Dafür brauchen wir den Vertrag von Lissabon und eine Änderung der Entsenderichtlinie, damit diese soziale Standards schützt.“ SPD und DGB haben erkannt: So einfach liegen die Dinge nicht. Eine Änderung der Entsenderichtlinie und der Vertrag von Lissabon reichen nicht. Die soziale Fortschrittsklausel muss her, also eine Änderung der Europäischen Verträge. Ohnedem gibt es keinen sozialen Fortschritt in Europa. Und das geht nicht ohne eine neue Regierungskonferenz zur Reform der Europäischen Verträge – ist doch logisch.
Die Zauderer und ewigen Blockierer werden die neue, gewerkschaftsorientierte SPD noch kennen lernen: „Sozialer Fortschritt in Europa – nur mit uns!“ Wenn Martin Schulz erst mal EU-Kommissar und Frank Walter Steinmeier Bundeskanzler sind, geht’s richtig los mit dem sozialen Europa. Liebe Wählerinnen und Wähler: Sie müssen nur fest daran glauben! Wer war denn gegen „Finanzheuschrecken“ und Raubtierkapitalismus, gegen das Programm der sozialen Kälte von CDU und CSU und die neoliberale Ideologie der FDP, schon 2005? Doch nur die SPD! Die SPD kann natürlich nicht immer so, wie sie ja eigentlich will. Aber demnächst wird das alles ganz anders, zusammen mit Grünen und FDP, oder wieder mit CDU/CSU – Glückauf!

Zitierte Dokumente
Europäisches Parlament: Protokoll der namentlichen Abstimmungen, Plenartagung vom 22.102008, Andersson-Bericht Seite 36-80
Für ein Europa des sozialen Fortschritts. Gemeinsames Positionspapier von SPD und DGB; beschlossen vom SPD-Präsidium am 4. Mai 2009 und vom DGB-Bundesvorstand am 5. Mai 2009
Europawahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen 2009: Für ein besseres Europa (siehe Seite Kapitel 4, Soziales Europa, ab Seite 74).