Interview von André Brie für den „Nordkurier“ (4. März 2009)
Sie genießen unter Ihren Kollegen im Europäischen Parlament ein hohes Ansehen vor allem als Außen- und Sicherheitsexperte. Trotzdem hat die Linke Ihre Karriere in Brüssel und Straßburg beendet. Eine persönliche Niederlage?
Natürlich. Ich glaube eine sehr gute und wirkungsvolle Arbeit für Mecklenburg-Vorpommern, für den Verbraucherschutz in Europa, für die Menschen in Afghanistan und im Irak und nicht zuletzt als Koordinator der Fraktion gleich in zwei Ausschüssen gemacht zu haben. Dass dies nicht anerkannt wird, schmerzt auch persönlich. Vor allem aber ist es eine politische Niederlage, weil realistische linke Politik, die nicht nur große Ziele hat, sondern für Menschen hier und heute etwas bewegen will, die nicht nur auf Parteitagen, sondern in der Gesellschaft wirken will, offensichtlich nicht sehr geschätzt wird.
Könnte es sein, dass Ihnen Ihre in der Linkspartei nicht unumstrittene Position zum Thema Afghanistan den Stuhl in Brüssel gekostet hat? Oder hat diese Entscheidung mehr mit dem Dissenz zu tun zwischen Ihnen und Oskar Lafontaine?
Meinungsunterschiede sind anders als in der SED Gott sei Dank normal, natürlich auch für Oskar Lafontaine. Zu meiner Afghanistan-Haltung wurden und werden von einigen auf sehr effektive Weise Unwahrheiten verbreitet. Ich habe unmittelbar nach dem 11. September als es angesichts der Bilder und der vielen Toten in New York sehr schwer war eine große Antikriegsdemonstration in Berlin mitorganisiert. Dieser Haltung bin ich immer treu geblieben. Es gab und gibt nur einen prinzipiellen Unterschied. Ich setze mich auch mit der sowjetischen Invasion und ihren verhängnisvollen Folgen für das afghanische Volk oder dem massenmörderischen Bürgerkrieg in den neunziger Jahren auseinander, der weder die Linke noch die westlichen Regierungen interessiert hat.
Mecklenburg-Vorpommerns Landeschef Peter Ritter hat bedauert, mit Ihnen ein wichtiges Bindeglied nach Europa zu verlieren. Gleichzeitig kritisiert er die „regional nicht ausgewogene Bundesliste“. Wie stehen Sie zu diesen Äußerungen?
Dass Mecklenburg durch die Linke (höchstwahrscheinlich auch durch die SPD) nicht mehr im EP vertreten sein wird, ist angesichts der äußerst praktischen Arbeitserfordernisse und -möglichkeiten sicherlich fatal.
Das Wahlprogramm der Linkspartei erscheint eher Europa-skeptisch. Von Aufrüstung und sozialer Spaltung ist da die Rede. Passen Sie nicht mehr in das Europa-Schema der Parteispitze?
Ich habe die Europawahlkämpfe der Partei von 1994 bis 2004 geleitet. Wir und ich haben die Verträge von Maastricht bis Lissabon abgelehnt, weil sie Europa nicht einigen, sondern sozial spalten und Renationalisierung fördern. Und selbstverständlich gibt es niemanden in der Linken, der sich nicht gegen Aufrüstung wendet. Aber ich betone auch das Positive der europäischen Einigung und Politik und möchte, dass die Linke und möglichst viele Menschen um eine soziale EU kämpfen, aber mit konkreter und genauer Kritik und praktischer Politik, und mit erlebbarer Lust an einem vereinten Europa.
Was halten Sie von der Passage im Wahlprogramm, wonach der Vorrang des EU-Rechts vor nationalen Grundrechten gebrochen werden müsse?
In dieser Pauschalität: nichts. Es ist auch ein wichtiger Völkerrechtsgrundsatz, dass internationales Recht dem nationalen vorgeht. Das Grundgesetz hat darüber hinaus ausdrücklich die Abgabe von Souveränitätsrechten an die EU gebilligt. Bindende internationale Menschenrechtskonventionen, EU-Grundrechte und nationale Grundrechte können sich sehr gut ergänzen. In der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes haben sich jedoch in jüngerer Zeit bedrohliche Tendenzen gezeigt, selbst das Streitrecht der Freiheit des Kapitalverkehrs unterzuordnen. Das ist auf keinen Fall akzeptabel.
Hat die gewachsene Skepsis in der Linkspartei vielleicht etwas zu tun mit der Vereinigung mit der WASG?
Es war ja nicht nur eine Vereinigung, es war eine wirkliche Neugründung der Partei. Da ist es verständlich, dass Vieles wieder bei Null anfängt, Klarungsprozesse ausstehen oder die in der PDS erreichte Fähigkeit, alternativer linker Gesellschaftsvorstellungen mit konsequent realistischer Politik zu verbinden, erst wieder neu errungen werden muss.
Ist es überhaupt möglich, sozialistischen Idealen treu zu bleiben und dennoch europäische Realpolitik zu machen?
Das ist in Europa, in der globalen Politik und in Deutschland das gleiche, entscheidende und natürlich nicht einfache Problem. Aber auch die sozialistischen Ideale müssen realistisch sein, die Fehler der Vergangenheit konsequent und umfassend überwinden. Umgekehrt bedeutet Realpolitik ja nicht Prinzipienlosigkeit und Opportunismus. Sie muss für eine linke Partei immer auch von linken Positionen gemacht werden. Das hat viele und sehr schwierige Seiten, einen aber immer: für und mit den sozial benachteiligten und ausgegrenzten Menschen.
Eine denkbare schwarz-gelbe Koalition nach den Bundestagswahlen im Herbst könnte die Linke gemeinsam mit der SPD auf die Oppositionsbank bringen. Wäre das nicht die Chance, aufeinander zuzugehen, ein strategisches Bündnis aus dieser gemeinsamen Opposition heraus zu schmieden?
Ja, und diese Pflicht haben beide Parteien. Es geht darum, sich nicht mit einer Gesellschaft abzufinden, die Menschen sozial ausgrenzt, ihre gemeinsamen Grundinteressen an Bildung, Arbeit, Kultur und sozialer Sicherheit für alle nicht gegen die großen Finanz- und Wirtschaftsakteure durchsetzt, die Natur auf dem Erdball riskiert und nicht endlich weltweiten Frieden stiftet.
Wo sehen Sie die Möglichkeiten und die Hemmnisse für ein solches Bündnis?
Die Möglichkeiten sind derzeit gering. Für eine solche Politik steht die SPD (noch?) nicht bereit. Die Linke hat derartige Forderungen, im Bundestag auch oft in konkrete Vorstellungen umgesetzt. Aber in der Gesamtpartei ist die Hinwendung zu solch konkreter Politik und zu notwendigen Kompromissen mit Andersdenkenden noch nicht ausreichend. Das größte Hindernis wird die Außen- und Sicherheitspolitik sein. Ich halte unsere Positionen hier grundsätzlich für richtig, aber sie sind natürlich nicht mit der SPD kompatibel. Und uns fehlen wohl auch das Vertrauen, die Geduld, die politische Fähigkeit für eine schrittweise und langfristige Veränderung.
Ist die Linke überhaupt regierungsfähig?
Personell und in den meisten inhaltlichen Fragen zweifellos. Wenn wir aber einen Zwiespalt zwischen radikaler Programmatik und realer Politik zulassen, sogar vorprogrammieren wie in Essen, werden unsere eigenen Mitglieder und Wähler schnell enttäuscht sein.
Kann die Linkspartei nach dem Affront von Essen überhaupt Ihre politische Heimat bleiben?
Ich habe die Wandlungen 1989/90 gewollt und mit vorangetrieben. Oft genug fiel das meinem Kopf leichter als meinem Herzen. Dazu gehörte auch, eine Partei zu wollen, in der es demokratische Niederlagen gibt. Und ich bin Sozialist. Also, werde ich in dieser und um diese und keine andere Partei kämpfen.