Interview mit dem „Neues Deutschland“, 29.01.2009

Dr. André Brie

F.: Der irakische Premier Nuri al-Maliki meint, die Provinzwahlen würden die neue Stabilität des Landes belegen. Konnten Sie diese Stabilität in Irak erleben?

A.: Ich habe erfahren, dass die Zahl der Anschläge und Toten substanziell zurückgegangen ist. Stabilität aber konnte ich nicht erkennen, denn ich habe Panzer und Kampfhubschrauber gesehen – und unzählige Mauern, nicht nur um die „Grüne Zone“, sondern praktisch um jedes Wohnviertel in Bagdad. Darüber hinaus ist die recht gute Vorbereitung der Provinzwahlen ganz und gar nicht mit Sicherheit gleichzusetzen: Es sind drei Kandidatinnen und Kandidaten getötet worden, etwa 80 Menschen wurden während der Wahlkampagne verletzt. Zudem gibt es nach Einschätzung der EU-Wahlexpertenmission in Irak für Journalisten praktisch keine freien Arbeitsmöglichkeiten.

F.: Also keine Verbesserung der Sicherheitslage?

A..: Doch, das zeigt sich nicht nur an der verminderten Zahl von Anschlägen und Toten, sondern auch an einer größeren Bewegungsfreiheit für Irakerinnen und Iraker. Aber es ist eine Stabilität, die erstens auf einer massiven Militärpräsenz vor allem der US-Amerikaner sowie der Armee und der Polizei Iraks und zweitens den Ergebnissen der religiösen und ethnischen „Säuberung“ und Trennung beruht. Drittens – und das haben alle unseren kritischen und unabhängigen Gesprächspartner in Irak ebenso betont wie der stellvertretende Kommandeur der multinationalen Streitkräfte – sind alle Konflikte ungelöst und die Gewalt kann jederzeit wieder ausbrechen.

F.: Stichwort US-Militärpräsenz. Glauben Sie, dass sich daran unter Präsident Obama etwas ändert?

A.: Die bisherige Politik in Irak wird auch von Obama als erfolgreich angesehen. Dass der US-Präsident an Pentagonchef Gates festhält, weist darauf hin, dass er diese Strategie auch in Afghanistan anwenden will. Daher erwarte ich in dieser Frage keine Änderungen und bin überzeugt, dass die Stabilisierung nur scheinbar ist und keinen Erfolg darstellt.

F.: Sie haben die Frage der religiösen Trennung angesprochen. Wie hat sich das Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten entwickelt?

A.: In diesem Verhältnis gibt es eine gewisse Entspannung. In der Bevölkerung gab es diesen Konflikt ohnehin nicht, er ist vor allem von den USA in das Land hinein getragen worden. Auf der politischen Ebene schwelt er aber massiv weiter. Das zeigt sich derzeit in der Unfähigkeit des irakischen Parlaments, einen neuen Präsidenten der Vertretung – der ein Sunnite sein soll – zu wählen. Ein anderer Ausdruck dieser Spannungen ist, dass die Provinz Anbar, die eine Hochburg sunnitischer Aufstände war, inzwischen mit den USA, nicht aber der Zentralregierung zusammenarbeitet.

F.: Iraks Regierung verweist auf Erfolge beim Wiederaufbau. Konnten Sie davon etwas sehen?

A.: Ich habe solche Erfolge nicht gesehen und denke, dass sie nicht existieren. Ein ganz konkretes und makaberes Erlebnis: Parallel zu unserem Besuch in Bagdad tobte der Gaza-Krieg. Auf der Straße hörten wir mehrfach die Aussage: In Gaza haben sie fünf Stunden keinen Strom, aber wir haben seit fünf Jahren keinen. Neben der praktisch fehlenden Energieversorgung gibt es weitere dramatische Probleme. Die Arbeitslosigkeit ist horrend, die Not großer Bevölkerungsteile entsetzlich, der wirtschaftliche Aufbau stockt, Investitionen finden nur in ganz wenigen Bereichen und Gebieten statt. Allerdings, und auch das muss gesagt werden, sieht es im kurdischen Norden anders aus.

F.: Mit der dramatischen Lage entsteht neues Konfliktpotenzial …

A.: Das glaube ich, und das wird auch von vielen Experten vor Ort so eingeschätzt. Irak wird durch den gefallenen Ölpreis sehr schnell seine Reserven aus den Vorjahren aufbrauchen, bereits in diesem Jahr besteht die Gefahr, dass Löhne nicht mehr gezahlt und viele Infrastrukturmaßnahmen nicht mehr durchgeführt werden können. Das wird angesichts der allgemeinen Situation und der sozialen Not zusätzliches und gefährliches Konfliktpotenzial entstehen lassen.

F.: Von Geberkonferenzen oder internationalen Beratungen zur Zukunft Iraks ist kaum noch etwas zu hören. Hat sich insbesondere der Westen mit der Lage des Landes abgefunden?

A.: Man muss keine Geberkonferenzen einberufen, Irak hat durch seinen Ölreichtum eigene Möglichkeiten. Das Problem liegt auf politischem Gebiet: Die USA haben durch ihre Invasion Irak zerrissen. Und auch Barack Obama hat sich noch nicht von dem Plan, das Land faktisch in drei Teile zu spalten, verabschiedet.

F.: Wie sehen sie in diesen Zusammenhang das Engagement der EU?

A.: Tragisch. In der „Grünen Zone“ sitzen nur vier oder fünf EU-Beamte. Damit kann weder politisch noch finanziell durch die EU eine wirkungsvolle, sichtbare und autonome Politik betrieben werden.