Chance für den Bürgerwillen
Interview mit Sylvia-Yvnne Kaufmann in Neues Deutschland am 30. Januar 2009
Künftig sollen in der EU – neben Europaparlament und Rat – auch die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, die Europäische Kommission zum Erlass eines bestimmten Rechtsaktes aufzufordern und so Gesetzesprojekte zu initiieren. Das Instrument dafür ist die »Europäische Bürgerinitiative«, die von mindestens einer Million Menschen getragen werden muss. Als »Berichterstatterin« bereitet die EU-Abgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann (LINKE) einen Vorschlag vor, um die Bürgerinitiative in das europäische Recht einzuführen. Mit ihr sprach für ND Uwe Sattler.
ND: Der Ausschuss für konstitutionelle Fragen hat Ihre Vorschläge zur Bürgerinitiative bestätigt. Können die Europäer bald direkt in Brüssel mitreden?
Kaufmann: Ich bin erst einmal froh, dass ich im Ausschuss mit 15 Ja- zu vier Nein-Stimmen eine deutliche Bestätigung meiner wesentlichen Vorschläge bekommen habe. Das Wichtigste ist, dass das von mir vorgeschlagene Verfahren komplett angenommen wurde. Dieses Verfahren gibt den Nichtregierungsorganisationen Rechtssicherheit bei der Durchführung von Bürgerinitiativen und verhindert, dass die EU-Kommission nach ihrem politischen Belieben entscheiden kann, ob eine Initiative zulässig oder erfolgreich ist und ob sie darauf reagiert. Allerdings stehen wir noch ganz am Anfang. Dies ist bislang erst der Vorschlag des Ausschusses. Findet er Anfang März die Zustimmung im Plenum, dann fordert das Parlament die Kommission auf, einen Vorschlag für den Erlass einer Verordnung über die Bürgerinitiative vorzulegen. Letzteres ist aber erst in der nächsten Legislaturperiode zu erwarten.
Schaut man sich den Umgang der Regierungen mit dem Lissabonner Vertrag an, scheint die Bereitschaft nicht groß, die Bürger wirklich mitreden zu lassen.
Das ist in der Tat so. Gerade deshalb wäre es so wichtig, dass die Bürgerinitiative als Instrument der direkten Beteiligung der Menschen am europäischen Geschehen und Gesetzgebungsprozess so schnell wie möglich Wirklichkeit wird. Diese Möglichkeit sieht der Vertrag von Lissabon vor. Sollte er in Kraft treten, wird es für die Regierungen wesentlich schwieriger, sich dem Bürgerwillen einfach zu widersetzen. Tritt der Vertrag nicht in Kraft, wird die Bürgerinitiative in weite Ferne geschoben.
Wer kann überhaupt eine Bürgerinitiative starten?
Jede Bürgerin und jeder Bürger hat individuell das Recht, eine solche Initiative auf den Weg zu bringen oder zu unterstützen. Zumeist werden sicherlich mehrere Personen zusammen eine Kampagne organisieren – sie muss ja länderübergreifend sein. Aus diesem Grunde müssen Bürgerinitiativen auch finanzielle Unterstützung erhalten können. Ebenso wichtig ist umgekehrt die Gewährleistung umfassender Transparenz. Es muss klar sein, wer Geld in eine solche Initiative gesteckt hat. Das ist auch für deren Bewertung wichtig. Man kann sich nämlich durchaus vorstellen, dass etwa große Konzerne »ihre Leute« in die Spur schicken, um eine bestimmte Gesetzgebung zu initiieren.
Auch Rechtsextreme werden versuchen, ihre Ziele mit der Bürgerinitiative durchzusetzen.
Bereits in der allerersten Ausschussdebatte hat sich gezeigt, dass viele Kolleginnen und Kollegen Sorge vor einem Missbrauch der Bürgerinitiative haben. Noch dazu vor dem Hintergrund, dass dieses Instrument direkter Demokratie in den meisten EU-Staaten gar nicht existiert. Ich bin froh darüber, dass ich diese Sorge zum Teil ausräumen konnte. Bereits durch das Erfordernis von einer Million Unterstützerinnen und Unterstützern aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten wird die Gefahr des Missbrauchs stark verringert. Zudem muss jede Initiative die Werte und Grundrechte der Union achten.
Bei welchen Themen sind Unterschriftenaktionen denkbar?
Es gab bereits eine Reihe solcher Aktionen, beispielsweise die Kampagne für ein europäisches Gesetz zum Schutz von Menschen mit Behinderungen. Allerdings gab es für den Umgang damit noch keine rechtliche Grundlage. Als ein zentrales Thema der allernächsten Zukunft könnte ich mir die Änderung der Entsenderichtlinie vorstellen, um überall in der EU gleiche Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Löhnen und Sozialschutz zu erreichen.
Sollte sich die Linke dafür einsetzen, dass die Bürgerinitiative unabhängig vom Lissabonner Vertrag Realität wird?
Unbedingt. Die Bürgerinitiative gehört für mich zu den wichtigsten Fortschritten, die vom Verfassungskonvent vor bereits über fünf Jahren vorgeschlagen wurden. Es muss mehr Druck gemacht werden, damit sie endlich Realität wird. Für mich ist die Bürgerinitiative zudem der Türöffner auf dem Weg zu einem umfassenden System supranationaler direkter Demokratie in der EU.
Veröffentlicht in Neues Deutschland am 30. Januar 2009