Eine unsoziale Agenda

Kolumne von André Brie für „Disput“, Februar 2009

„Die soziale Dimension Europas – Zeit für Erneuerung und Neubelebung“, so ist die Mittelung der EU-Kommission für eine „erneuerte Sozialagenda“ der EU überschrieben. Das liest sich gut, soll sich auch gut lesen, denn auch wenn Regierungen und Kommission nicht bereit sind, wirkliche Schlussfolgerungen aus dem scheitern des EU-Verfassungsvertrages und dem irischen Nein zum Lissabon-Vertrag, aus der offenkundigen Krise der europäischen Integration und der wachsenden Distanz der Bürgerinnen und Bürger zur EU zu ziehen, so haben sie doch begriffen, dass die viele Menschen die europäische Politik als unsozial empfinden. So wurde auch das Attribut „sozial“ fast schon inflationär in den Lissabonvertrag eingefügt, die neoliberale Rechtssubstanz jedoch nicht angetastet. Sie aber und nicht allgemeine soziale Orientierungen werden die Politik der Regierungen und der Kommission sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes bestimmen. Die Dominanz von Wettbewerb, Deregulierung und Privatisierung wird nicht angetastet.

Bei aller erforderlichen Differenzierung und einzelnen positiven Elemente ist dies eben auch das eigentliche Wesen der „erneuerten Sozialagenda“. Das dicke Paket von teilweise auch alten und vielen neuen Maßnahmen, rechtsverbindlichen Verordnungen und unverbindlichen Empfehlungen an die Regierungen, soll den Eindruck erwecken, dass sich die Europäische Union endlich und umfassend der sozialen Dimension der europäischen Integration zuwendet, doch letztlich ist das Gegenteil der Fall. Wer sich nicht täuschen lässt von der Fülle vorgeschlagener sozialer Maßnahmen (die Agenda enthält sieben Kapitel von der Kinder- und Jugendpolitik über die Beschäftigungs- und Antidiskriminierungspolitik, die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung bis hin zur „Solidarität auf globaler Ebene“ (im übrigen der inhaltlich dünnste Abschnitt) sowie einen Teil zu den rechtlichen, politischen und finanziellen Mitteln, mit denen die Ziele erreicht werden sollen, wird ohne weiteres feststellen müssen, dass die „erneuerte Sozialagenda“ der Kommission die Fortsetzung der alten unsozialen Politik der „Einheitlichen Europäischen Akte“ von 1987 und der Verträge von Maastricht, Nizza und Lissabon mit alten Mitteln und Inhalten unter einem gefälligeren Etikett ist.

Bereits in der Begründung werden nicht soziale Erfordernisse, sondern lediglich der technologische Wandel, die Globalisierung und die „Alterung der Gesellschaften“ genannt, um fortzufahren: „Die Sozialpolitik muss mit diesem Wandel Schritt halten“. So wird Sozialpolitik lediglich zum Vehikel der Anpassung an ökonomische Wettbewerbs- und Vermarktungserfordernisse degradiert, bestenfalls zum Reparaturbetrieb sozialer Zerstörung. Folgerichtig betont die Kommission: „Die neue Sozialagenda ist unmittelbarer Bestandteil der Lissabonstrategie “ Die jedoch hat Deregulierung und Privatisierung zum Ziel und ist ein wesentlicher europäischer Beitrag zur derzeitigen Weltfinanz- und Wirtschaftskrise. Konsequenterweise ist daher auch der bereits viel diskutierte Vorschlag für eine „Richtlinie zu Patientenrechten in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“ Bestandteil der Sozialagenda, mit der die Tür zu einer europäischen Vermarktung dieses so grundsätzlichen öffentlichen Gutes geöffnet wird. Anders als in der ursprünglichen Fassung der Lissabonstrategie im Jahr 2000 ist in der „neuen“ Sozialagenda auch nicht einmal mehr die Rede davon, die Kinderarmut in Europa bis zum Jahr 2010 zu beseitigen. Sie soll nun lediglich „vermindert“ werden. Derzeit sind 19 Millionen Kinder in der EU von Armut und ihren umfassenden sozialen und anderen Folgen (6 Millionen Kinder jährlich brechen die Schule vorzeitig und ohne jeden Abschluss ab) betroffen!

Für die Linke ergeben sich meiner Meinung nach fünf Aufgaben: Erstens muss über die neue Agenda und ihr antisoziales Wesen aufgeklärt, sie muss bekannt werden, damit die Bürgerinnen und Bürger sich mit ihr auseinandersetzen können. Zweitens müssen wir selbst einen aktiven und offensiven Beitrag zur Auseinandersetzung mit ihrer sozialreaktionären Grundphilosophie leisten. Drittens sind gemeinsam mit Sozialverbänden und Gewerkschaften größte parlamentarische und außerparlamentarische Anstrengungen erforderlich, um zu verhindern negative Maßnahmen zu stoppen. Viertens müssen einzelne positive Vorschläge, vor allem im Antidiskriminierungsbereich (Schwangeren- und Mutterschutz, Elternurlaub, Bekämpfung von Diskriminierung außerhalb von Beruf und Beschäftigung), gegen den bereits lautstark ausgebrochenen Widerstand der Bundesregierung und der Unternehmerverbände verteidigt werden. Fünftens schließlich steht für die Linke und eigentlich für alle, die die europäische Integration gegen die Re-Nationalismus verteidigen wollen der Kampf um eine europäische Sozialunion als Bedingung für die Verteidigung und Wiedergewinnung des Sozialstaats an erster Stelle europäischer Politik.