Gaza: der Krieg, der Terror, die Dummheit der Politik
Beitrag von André Brie für „DIE LINKE ZEITUNG“ Salzland
Als die Bundeskanzlerin zu Beginn des israelischen Krieges gegen den Gaza-Streifen verkündete, die Schuld liege allein bei der Hamas, wollte ich ihre Äußerung zunächst zynisch nennen. Dann überlegte ich, dass Dummheit vielleicht doch die richtigere Bezeichnung sei. Etwas Dummes zu sagen, scheint sicherlich harmloser als Zynismus. Und verharmlosen darf man Merkels Behauptung nicht. Sie ist falsch, unverantwortlich, menschenverachtend, ja, zynisch ist sie auch. Wenn ich dennoch von Dummheit spreche, dann deswegen, weil sie auch von gewollter Unkenntnis gekennzeichnet ist. Merkel und die meisten anderen Politikerinnen und Politiker waren nie bereit, sich bei ihren zahlreichen Israel-Besuchen mal ein paar Tage Zeit zu nehmen, um das von israelischen Mauern einbetonierte Qalqilya im Westjordanland zu besuchen, wo Zehntausende Palästinenserinnen und Palästinenser keine Bewegungsfreiheit haben, nicht auf ihre Felder gelangen können, wie in einem Massengefängnis leben. Sie sind nie am sogenannten Sicherheitszaun entlang gefahren, der – fast ausschließlich auf palästinensischem Gebiet – die Menschen in den Westbanks von einander und von den Krankenhäusern, Schulen, Universitäten und ihren Gemüse- und Obstgärten trennt. Sie kennen nicht die zahllosen Straßensperren im Westjordanland, an denen nicht selten Kranke und Schwangere in palästinensischen Krankenwagen sterben, weil sie nicht rechtzeitig zur Behandlung kommen, und die für Palästinenser verbotenen Straßen. Den Gazastreifen, in dem anderthalb Millionen Menschen eingepfercht und oft tagelang von jeder Versorgung abgeschnitten sind, kennen sie schon gar nicht aus eigenem Erleben, sagen wir: aus dem Erleben eines Besuches, denn wirklich erleben kann das nur, wer dort leben muss.
Wer glaubt gut informiert zu sein, weil er die Berichte und Analysen der Zeitungen, Ministerien, „think tanks“ und Geheimdienste liest, bleibt dumm, weiß nicht wirklich, was los ist. „Wenn die Deutschen nur einen Tag so leben müssten“, hat mir einmal eine deutsche Studentin an der palästinensischen Universität Beirzeit gesagt, und von ihrem Alltag erzählt (in meinen Reisetagebüchern unter andrebrie.de kann man darüber lesen). Das Gleiche gilt für das israelische Leben in Sderot, um das propalästinensische Linke gern einen Bogen machen, wo jahrelang täglich Dutzende Kassam-Raketen der Hamas und anderer Fundamentalisten einschlugen. Die Bilder der getöteten jüdischen Kinder, Frauen und Männer im Zimmer des Bürgermeisters werde ich mein Leben lang nicht vergessen können.
Nichts ist zu rechtfertigen. Nicht der Terrorismus und Fanatismus der Fundamentalisten, nicht die Kriege und die Besatzungspolitik Israels. Auf keine dieser Seiten kann man sich stellen. Die Antworten sind schwierig, und sie liegen ganz wo anders. Beim Family Circle beispielsweise, in dem Jüdinnen und Juden, Palästinenserinnen und Palästinenser, die ihre Kinder oder Eltern durch den Terror und Krieg der jeweils anderen Seite verloren haben, miteinander reden und nach Versöhnung suchen, eine Haltung, zu der eine ungewöhnliche Menschlichkeit gehört. Oder die „Combatants for Peace“, israelische Soldaten und palästinensische Kämpfer, die sich weigern, auf einander zu schießen, den unentwirrbaren Zyklus von Aktion und Reaktion nicht mehr akzeptieren, Ächtung in ihren Gesellschaften hinnehmen und stattdessen gemeinsam für Frieden kämpfen. Dazu gehört ein alles andere als selbstverständlicher Mut. Diese Menschen sind ein Teil der Lösung, doch die wird breiter getragen werden müssen.
Die Ziele einer Lösung sind längst klar: Zwei Staaten, darunter ein lebens- und wirtschaftsfähiges Palästina in den Grenzen von 1967 (oder mit Kompromissen durch einen Gebietsausgleich), die Anerkennung Israels und seiner Sicherheit durch die arabischen und andere islamische Staaten sowie durch alle politischen Kräfte Palästinas, konsequenter Gewaltverzicht. Der Weg dorthin ist kompliziert. Er wird von den Hardlinern auf beiden Seiten blockiert und jeder vorsichtige Schritt voran durch Gewaltanwendung zunichte gemacht. Die internationale Gemeinschaft versagt seit Jahrzehnten gleichermaßen. Sie wendet, wie Frau Merkel, zweierlei Maß an, schweigt und ist zu keiner gemeinsamen Politik fähig, die allein Israel zu einer Beendigung der Besatzung veranlassen könnte. Der Wahlsieg der Hamas, unendlich bedauerlich, aber durch die Korruption und Uneinigkeit der Fatah-Führung und die anhaltende Unterdrückung und Demütigung der Palästinenser erklärlich, wurde nicht anerkannt, damit das Resultat freier und fairer Wahlen. Schlimmer hätte man den Palästinensern nicht die westliche Doppelzüngigkeit und Geringschätzung von Demokratie demonstrieren können. Die Kontaktsperre gegen die Hamas ist eher zu deren Lebenselixier geworden und verhindert auch die harte politische Auseinandersetzung mit ihrem Fundamentalismus, den palästinensische Frauen und Intellektuelle ohnehin zuerst erfahren. Ich habe in den letzten zwei Jahrzehnten gelegentlich doch einmal Hoffnung auf Frieden im Nahen Osten gehabt. Sie ist immer wieder im Blut unschuldiger Juden und Palästinenser zerstört worden. Dieser erneute und so barbarische Krieg ohne jedes Ergebnis zeigt möglicherweise endgültig, dass es so weder für Israel noch für Palästina weiter gehen kann ohne Katastrophe. Aber wird das diesmal begriffen?