»Es ist wieder Vernunft eingezogen«
Interview mit Sylvia-Yvonne Kaufmann im „Neues Deutschland“ vom 14.November 2008
Sylvia-Yvonne Kaufmann zum Verhältnis zwischen der EU und Russland
ND: Die EU-Außenminister haben beschlossen, die Verhandlungen mit Russland über ein neues Kooperations- und Partnerschaftsabkommen ohne Vorbedingungen wieder aufzunehmen. War die Aussetzung der Gespräche nach der Kaukasus-Krise ein Sturm im Wasserglas?
Kaufmann: Die EU muss ganz klar der Tatsache Rechnung tragen, dass das russisch-europäische Verhältnis von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt ist, insbesondere im Energiesektor. Man muss sich nur vor Augen führen, dass Russland für die EU in den nächsten 20 bis 30 Jahren der größte Öl- und Gaslieferant bleiben wird, die europäischen Staaten aber zugleich die wichtigsten Abnehmer für diese russischen Energieträger sind. Und insgesamt 80 Prozent der Investitionen in Russland, insbesondere für die Modernisierung der Wirtschaft und Infrastruktur, kommen aus der EU. Insofern ist offensichtlich wieder Vernunft eingezogen.
ND: War es angesichts der gegenseitigen Abhängigkeiten nicht illusorisch, Druck auf Moskau ausüben zu können?
Kaufmann: Die Entwicklung in den letzten Wochen und Monaten hat gezeigt, dass die EU von einer Isolations- oder Einkreisungspolitik gegenüber Russland nicht profitiert, sondern dabei sogar verliert. Diese Einsicht hat auch dazu geführt, einen neuen Anlauf zu Verhandlungen über das Partnerschaftsabkommen zu nehmen.
ND: Am Donnerstag ist Georgiens Präsident zu Gesprächen mit dem EU-Ratspräsidenten Nicolas Sarkozy nach Paris gereist. Das sieht nach einseitiger Parteinahme aus.
Kaufmann: Die EU kann kein Interesse daran haben, dass die Beziehungen zwischen Russland und Georgien weiter eskalieren, ebenso wenig daran, dass sich ihr eigenes Verhältnis zu Russland verschlechtert. Vom Gipfel muss ein klares Signal in Richtung Verbesserung der Beziehungen zu Moskau ausgehen.
ND: Wie müsste denn eine europäische Politik aussehen, die auf tatsächliche Partnerschaft mit Russland zielt?
Kaufmann: Neben einem umfassenden Ansatz, der sich nicht nur an Energiefragen orientiert, geht es insbesondere darum, dass die EU ihr bisheriges Kotau-Verhältnis zu den USA beendet und eine eigenständige, auf Kooperation gerichtete Politik gegenüber Russland betreibt. Die von Washington beförderte Isolation und Einkreisung Russlands darf von Europa nicht unterstützt werden. Konkret heißt das, dass die EU einen NATO-Beitritt Georgiens oder der Ukraine unmissverständlich ablehnen muss. Daneben ist es höchste Zeit für die Europäische Union, eine gemeinsame Position zu den russischen Vorschlägen für eine europäische Sicherheitsstruktur zu entwickeln. Dabei muss es insbesondere um Schritte zur Abrüstung gehen, denn der gesamte Bereich der Rüstungsreduzierung hat in den vergangenen Jahren brach gelegen.
Fragen: Uwe Sattler
URL: http://www.neues-deutschland.de/artikel/138940.es-ist-wieder-vernunft-eingezogen.html