Hoffnungslose Rückkehr

Beitrag vom 21.10.2008 von André Brie in „Das Blättchen“

Am Tage steigt das Thermometer in der irakischen Wüste auch Mitte Oktober noch auf über 30 Grad. Nur nachts und am frühen Morgen ist es kühl. Glaubt man den Berichten der US-Regierung und den deutschen Medien, deren Kommentatoren in den heimatlichen Redaktionsstuben oder bestenfalls in Kairo und Amman sitzen, hat sich auch die Gewalt im Irak abgekühlt. Die Zahl der großen Anschläge ist in den vergangenen Monaten tatsächlich spürbar zurückgegangen; furchtbar genug sind sie immer noch. Die täglichen individuellen Morde sind der Sensations- und Superlativgier der Zeitungen auch in der Vergangenheit keine Meldung wert gewesen, obwohl sie schon immer das Gros der Gewalt ausmachten. Sie halten fast unvermindert an. In Mossul richten sie sich vor allem gegen die dort wohnende kurdische Minderheit, in Bagdad oder in der Provinz Diyala soll die religiöse Säuberung und Trennung vollendet werden. Noch immer werden Offiziere der alten Armee, Intellektuelle und Funktionäre des Baath-Regimes regelrecht abgeschlachtet. Ihre enthaupteten und geschändeten Leichen werden auf den Straßen und in Flüssen gefunden. Im schiitischen Süden reagieren fundamentalistische Milizen und Parteien auf ihren schwindenden Rückhalt in der Bevölkerung mit verstärkten Drohungen gegen gemäßigte und säkulare Persönlichkeiten, gezielten Tötungen und der Verwüstung von Kultureinrichtungen. Dass der Süden in den Medien als stabilisiert gilt, ist ohnehin der westlichen Ignoranz gegenüber der bedrückenden Situation von Frauen und Mädchen und dem dort vorherrschenden ideologischen Fundamentalismus geschuldet.
Es gibt keine Ruhe im Irak, und wo es stiller geworden ist, ist es nicht selten eine Friedhofsruhe, die Stille geknebelter Menschen oder die Ruhe einer Militär- und Besatzungsdiktatur. Auf den 350 Kilometern durch die Wüstengebiete von Al Khalis, nordöstlich Bagdads, nach Erbil im kurdischen Norden, habe ich neunzehn Straßensperren von Polizei und Armee gezählt, schwer bewaffnete Festungen. Die Schützenpanzer und Feuerstellungen der irakischen und US-Armee im Sand links und rechts der Straße habe ich nicht mitgerechnet. Die religiösen und ethnischen Säuberungen, die insbesondere zwischen 2004 und 2007 eines der Hauptziele von grausamen Bombenanschlägen, Selbstmordattentaten und massenhaften einzelnen Morden waren, sind in den meisten Teilen und Städten des Landes abgeschlossen. Die Zahlen der Toten sind umstritten, bis zu 1,2 Millionen werden genannt. Mehr als zwei Millionen Irakerinnen und Iraker sind nach Syrien, Jordanien oder nach Ägypten geflohen, eine gleiche Anzahl innerhalb des Landes. In diesem Herbst sind es die letzten verbliebenen Christinnen und Christen, die sich besonderer Drohungen und Gewalttaten ausgesetzt sehen.
Keines der explosiven Konfliktpotenziale des Iraks ist gelöst oder auch nur einer Lösung näher gekommen. Der Macht-, Erdöl- und Territorialkonflikt zwischen Kurden und Arabern schwelt weiter. Die Entscheidung über die Zugehörigkeit der Erdölregion Kirkuk sollte nach der Verfassung durch einen Volksentscheid bis Ende 2007 erfolgen. Sie wurde verschoben und wird, wenn sie denn stattfinden sollte, heftigste innerirakische und internationale Auseinandersetzungen auslösen (die Türkei und der Iran haben mit dem Einmarsch in Kurdistan gedroht, wenn Kirkuk zur kurdischen Region kommen sollte). Die von den USA und dem Iran initiierten religiösen Dominanzkämpfe zwischen Schiiten und Sunniten können jederzeit und vor allem im Vorfeld der baldigen Provinzwahlen und der zentralen Wahlen (2010) mit blutiger Schärfe zunehmen. Ministerpräsident Maliki ist in jüngster Zeit zwar auf Distanz zu reaktionären islamistischen Kräften gegangen, sie stellen jedoch die stärkste politische Macht in seiner Regierung dar und beherrschen große Teile der Sicherheitskräfte, das Verteidigungs-, Innen- und Justizministerium. Die besonders gewalttätigen Milizen des schiitischen Predigers Sadr sind von Maliki mit Unterstützung des konkurrierenden SCIRI (Höchster Rat der Islamischen Revolution im Irak) militärisch zurückgedrängt worden, haben angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Not jedoch ihre Massenbasis bewahrt. Der soziale, wirtschaftliche und kulturelle Wiederaufbau ist, mit Ausnahme der kurdischen Region, nicht in Gang gekommen. Die Erdölstadt Kirkuk, nur 50 Kilometer von der boomenden kurdischen Hauptstadt Erbil entfernt, macht einen erbarmungswürdigen, verwahrlosten und bitterarmen Eindruck. Nur Geld für neue Moscheen scheint überall vorhanden zu sein. Hunger, Arbeitslosigkeit, Bildungsnot, fehlende Gesundheitsversorgung, Energiemangel und Kriminalität prägen den Alltag der meisten Irakerinnen und Iraker. Dazu kommt eine schwache, gespaltene, handlungsunfähige und korrupte Regierung und Verwaltung.
Die USA planen, 2009 etwa zehn Prozent ihrer Truppen zurückzuziehen (und nach Afghanistan zu schicken). Bis 2011 soll das Gros ihrer Kampftruppen abgezogen werden. Spezialkräfte sollen offensichtlich im Land bleiben und Operationen gegen Aufständische und Terrorgruppen fortgesetzt werden. Wie auch immer: Die USA haben den Irak mit ihrer Aggression in das Chaos gestürzt und zu einer Rekrutierungsbasis des internationalen Terrorismus gemacht. Ihre Kriegsziele waren verlogen oder sind fehlgeschlagen, die Profitziele einiger Rüstungs- und Baukonzerne ausgenommen. Die Wirtschaft der USA und die Weltwirtschaft haben unermesslichen Schaden genommen. Den eigentlichen Preis, einen furchtbaren Preis, haben jedoch die Irakerinnen und Iraker gezahlt und werden ihn weiter zahlen müssen.
Es ist meine neunte Reise in den Irak seit 2003. Zu eigenen sicheren Einschätzungen bin ich kaum in der Lage. Meine Gesprächspartner, Dutzende sunnitische und schiitische, arabische und kurdische Stammesführer, Vorsitzende von nationalen und regionalen Frauenorganisationen, muslimische und christliche Geistliche, Vorsitzende kleinerer Parteien, drei hochrangige, kritische und erstaunlich offene Regierungsmitarbeiter, haben mich gebeten, Sprachrohr für sie zu sein. Das will ich gern, auch wenn es nur ein Flüstern im Getöse sein wird.
Zurück fahre ich im gepanzerten Wagen einer privaten US-amerikanischen Sicherheitsfirma. Auf der Ladefläche ist ein MG-Turm moniert. Der Schütze winkt jeden LKW und jeden PKW, der vor uns fährt oder uns entgegen kommt, von der Straße. Die stiernackigen, sonnenbebrillten Mitesser der US-Aggression führen sich als die Herrenmenschen eines Koloniallandes auf. Kein irakischer Fahrer, und es sind Hunderte in den fünf Stunden, wagt es, ihnen nicht zu gehorchen. Obwohl mir andere Erfahrungen Vorsicht bei diesem Superlativ gebieten: Ich bin in der schlechtesten, peinlichsten Gesellschaft meines Lebens. Die Rückkehr aus diesem Land fällt aber aus einem anderen Grund noch schwerer. Ich finde keinen Grund, optimistisch zu sein.