Sozialistische Politik ist europäisch
Die Linke muss um einen politischen Richtungswechsel der Integration ringen
Mit meinem Beitrag suche ich erneut das Gespräch zum Verständnis von moderner sozialistischer Politik. Ich möchte begründen, warum wir die europäische Integration zugleich kritisieren und bejahen sollten und warum das sozialistische »Ja« zur europäischen Integration mit einem »Nein« zu ihren vertraglichen Grundlagen zusammengeht.
Um gesellschaftspolitische Kräfteverhältnisse zugunsten des Demokratischen, Sozialen und Ökologischen verändern zu können, sind alle Ebenen politischen Handelns wichtig. Der Streit über die »wichtigste politische Handlungsebene« – zugespitzt als europäische oder nationalstaatliche geführt – verkennt meines Erachtens die Problematik politischer Hegemonie und nachhaltiger gesellschaftlicher Veränderungen. Dabei sollten Demokratische Sozialistinnen und Sozialisten ihre Strategien ausgehend von drei scheinbar einfachen Fragen entwickeln: Was ist jetzt zu tun, um politische Konflikte, soziale, ökologische und globale Probleme zu mildern und schrittweise demokratisch zu lösen? Was erleichtert vor allem die Lage der am meisten sozial Ausgegrenzten und Benachteiligten? Was ermutigt Menschen, solidarisch miteinander für ihre Interessen und für die Interessen der sozial Schwächeren und Schwächsten einzutreten?
Alle Handlungsebenen sind wichtig
Zur Verteidigung und Verbesserung konkreter Lebensbedingungen sind Akteure weit über die Linke hinaus für gemeinsame Vorhaben zu gewinnen. Immer wieder sind dafür Handlungsmöglichkeiten zu erschließen, zu nutzen und zu erweitern – auf lokaler, auf kommunaler, regionaler und nationalstaatlicher, auf europäischer, globaler und EU-Ebene. Damit sind auch Kriterien genannt, nach denen die Konzepte und Handlungen der verschiedenen politischen Akteure zu bewerten sind.
Konkreter: Wir stimmen sicher darin überein, dass wir, global gesehen, insbesondere mit vier zerstörerischen Tendenzen konfrontiert sind:
– mit Armut, sozialer Ausgrenzung, darunter Arbeitslosigkeit, sowie (wachsenden) sozialen und territorialen Spaltungen;
– mit Naturzerstörung, vor allem mit globaler Erwärmung und Artensterben;
– mit Entdemokratisierung, Überwachung und Repression, dem Verlust an demokratischen Gestaltungs- und politischen Steuerungsmöglichkeiten (insbesondere durch Privatisierung öffentlicher Leistungen, Verarmung von Kommunen und Regionen), mit Rechtsextremismus und verschiedenen politischen Fundamentalismen;
– mit Militarisierung und Kriegen, bewaffneten Konflikten und Attacken.
Globalisierungskritiker, die gegen die Privatisierung und Kommerzialisierung von Wissen argumentieren und mobilisieren, sollten sich mit jenen zusammentun, die sich um die örtlichen Bildungseinrichtungen sorgen. Sie kommen nicht darum herum, sich mit dem sogenannten Bologna-Prozess der Europäischen Union auseinanderzusetzen, der die Privatisierung und Kommerzialisierung von Wissen befördert. Dennoch kann ihr aktueller Aktionsschwerpunkt ein scheinbar ganz anderer sein: die Auseinandersetzung mit den Aktivitäten örtlicher Neonazis oder auch die Unterschriftensammlung für einen Volksentscheid über den Lissabonner Vertrag vom Dezember 2007.
Kritik an konkreter Politikgestaltung
Es ist bedauerlich, dass mit dem im Dezember 2007 in Lissabon unterzeichneten EU-Reformvertrag die genannten zerstörerischen Tendenzen und damit alle dringlichen Probleme weiter anwachsen. Schließlich geht es um die Lebensbedingungen von Menschen und gleichzeitig um das Eingeständnis der eigenen Schwäche. Wir, die Linken, haben es nur allzu selten vermocht, alternative politische Projekte zu entwickeln und dafür relevante gesellschaftliche Kräfte zu mobilisieren.
Wer heute in einem Mitgliedsland der Europäischen Union lebt und Gesellschaft demokratisch, sozial, ökologisch und solidarisch gestalten will, ist mit der Alternative konfrontiert: Entweder weitere Zuspitzung aller globalen Existenzfragen durch die Europäische Union oder Erschließung ihres Potenzials für gerechte und solidarische Problemlösungen. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht angesichts der Verflechtung der hier mächtigsten politischen, ökonomischen und militärischen Akteure, der politischen, sozialen und ökologischen Probleme in der EU, der zerstörerischen Tendenzen, die von der EU ausgehen oder durch diese befördert werden sowie des enormen Potenzials der EU, das für zukunftsfähige Entwicklungen mobilisiert werden könnte und muss.
In den 27 EU-Mitgliedsländern leben ca. 492 Millionen Menschen. Das sind 7,4 Prozent der Weltbevölkerung. 78 Millionen Menschen sind von Armut betroffen. Fast jedes fünfte Kind ist arm und ein Drittel der Kinder von Alleinerziehenden. 21 Prozent der Frauen und 16 Prozent der Männer über 65 Jahre verbringen ihren Lebensabend als Arme.
Aber das Potenzial der EU ist enorm: Sie produziert fast 20 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes. Ihr Anteil am Welthandel beträgt ca. 12 Prozent. Allein 15 Länder der Europäischen Union tätigen 45,2 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen und haben einen Anteil am Weltkapital import von über 20 Prozent. Beim Weltenergieverbrauch entfallen 17,8 Prozent auf die EU. Sie produziert 27,5 Prozent der klimaschädigenden Kohlendioxid-Emissionen. Die Europäische Union stellt fast ein Viertel der globalen militärischen Truppen! Sie hat völkerrechtswidrig militärisch interveniert und prägt ihre Angriffsfähigkeit weiter aus.
Die verschiedenen Bundesregierungen haben hohen Anteil an den Inhalten der europäischen Verträge, die in Deutschland Herrschenden für die gefährliche Entwicklung der EU. Sie haben vielfach über die Bande gespielt: Erst haben sie z. B. konkrete Leitlinien der europäischen Beschäftigungspolitik und entsprechende Empfehlungen der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates initiiert oder mitgetragen und dann mit ihnen die Hartzschen Arbeitsmarkt reformgesetze begründet. Deutschland produziert 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der EU. Sein Anteil an den Exporten der Union beträgt 85, an den Importen 63,7 Prozent. Die Bundesrepublik stellt 13,6 Prozent des Truppenkontingents der EU und 41,6 Prozent ihrer militärischen Ausrüstungen! Aber sie leistet nur – deutlich nach oben manipulierte – offizielle 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe!
Die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer sowie Millionen Menschen außerhalb der EU verbinden »Europäische Union« mit Hoffnungen auf Sicherheit in individueller Freiheit, stabile Demokratie und wirtschaftliche Fortschritte, auf Beiträge zur Lösung dringlichster sozialer, ökologischer und globaler Fragen. Sie haben dafür ihre Gründe: Kriege unter den EU-Mitgliedsländern wurden ausgeschlossen, die Freizügigkeit und Mobilität sind für die meisten EU-Bürger und Bürgerinnen gewachsen. Ihr Leben ist interessanter geworden. Sie konnten und können aus vielfältigen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen Nutzen ziehen.
Unser »Ja« zu einem demokratischen, sozialen, solidarischen und friedlichen Europa musste häufig durch unsere Kritik an der konkreten Ausgestaltung der Politik der EU begleitet werden. Immer ging es insbesondere um den »Gemeinsamen Markt« und damit um die Interessen der wirtschaftlich Mächtigsten. Soziale Nöte, ökologische Zerstörung und globale Bedrohungen wurden nicht konsequent bekämpft.
Nunmehr steht die EU wieder einmal an einem Scheideweg: Die Unzufriedenheit und Enttäuschungen der Bürgerinnen und Bürger, insbesondere in den neuen Mitgliedsländern, lassen die Bereitschaft schwinden, sich demokratisch in die Entwicklung der EU einzubringen. Nicht nur in Deutschland ist das Vertrauen in die Institutionen wie Rat, Kommission und Parlament in den letzten Monaten wiederum drastisch gesunken. Das wird von jenen in den Konzernzentralen, in den formellen und informellen Gremien des internationalen Kapitals genutzt, die die EU lediglich zur Freihandelszone bzw. zum spezifischen Wirtschaftsraum machen wollen. Sie verstehen sich nur allzu gut mit jenen Militärkreisen, Überwachern und Polizeistaatlern, die die »europäische Ressourcenversorgung«, den »wirksamen europäischen Grenzschutz« und die »Europäische Sicherheit« mit modernsten militärischen und Überwachungsmitteln gewährleisten wollen.
Demokratische Sozialistinnen und Sozialisten, die Linke insgesamt müssen sich also als engagierte Anhängerinnen europäischer Integration beweisen. Das heißt keinesfalls, dass sie den bisherigen Verlauf der europäischen Integration und ihre Ergebnisse vor den noch Marktradikaleren einfach zu verteidigen haben. Im Gegenteil, sie müssen um einen politischen Wechsel der Richtung und des Mechanismus der europäischen Integration ringen.
Ja zur EU, Nein zu ihren
Vertragsgrundlagen
Dass man zugleich »Ja« zur EU und »Nein« zu ihren vertraglichen Grundlagen sagen kann, hat die damalige PDS mit ihrem »Nein!« zu den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza sowie zum Entwurf der Europäischen Verfassung gezeigt. Wegen der konkreten Inhalte durfte sie auch nur »Nein!« sagen.
Das sozialistische »Ja« bedeutet, das konstruktive Potenzial der Europäischen Union zu erkennen und zu erschließen, an der Gestaltung des EU demokratisch partizipieren zu wollen. Dazu gehört auch und insbesondere, um politischen Einfluss auf die vertraglichen Grundlagen zu kämpfen, die EU gewissermaßen neu zu erfinden.
Wie (wenig) das bisher gelungen ist, zeigt die Geschichte des Lissabonner Vertrags. Seit der ersten Regierungskonferenz nach dem Ende des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und des Warschauer Paktes vom Dezember 1991 erweist sich immer wieder:
– Dringende soziale, ökologische und globale Probleme werden ignoriert oder so inkonsequent diskutiert und behandelt, dass sie letztendlich nicht notwendig gelindert und insgesamt eher weiter zugespitzt werden.
– Die »Herausforderungen der Globalisierung« und damit die »Vervollkommnung des Gemeinsamen Marktes« werden in das Zentrum der Gesellschaftspolitik gestellt. Damit werden der Wirtschafts- und Sozialpolitik neoliberale »Korsettstangen« eingezogen und der Einfluss der Weltmärkte auf das gesellschaftliche Leben erhöht.
– Die Militarisierung der Europäischen Union wird forciert, ihre Rolle als militärischer globaler Akteur wächst.
– Während die Rechte des Europäischen Parlamentes und Elemente der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern zunehmen, wachsen politisch produzierte »Sachzwänge«, observierende und repressive Elemente in den Gesellschaftspolitiken. Die Tendenzen zur Abschottung und restriktiven Regulierung von Asyl und Migration gewinnen deutlich an Gewicht.
– Wichtige Fragen, die geklärt werden müssen, soll die Arbeits- und Funktionsweise der EU vervollkommnet werden, werden aufgeschoben und bleiben teilweise unbeantwortet.
Diese Entwicklungen werden mit den Verträgen von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon legitimiert und befördert. Daher konnten bzw. können wir nur »Nein!« sagen. Das bedeutet jedoch überhaupt nicht, Fortschritte und neue Handlungsmöglichkeiten wie etwa die Grundrechtecharta, die erweiterten parlamentarischen Rechte und die Formen direkter Demokratie, die mit der Europäischen Bürgerinitiative Eingang in die Verträge fanden, gering zu schätzen. Ganz im Gegenteil: Es kommt darauf an, sie mit und für die Bürgerinnen und Bürger zu nutzen!
Welche Aufgaben stehen jetzt an?
Selbstverständlich geht es erstens darum, die von der Europäischen Linkspartei initiierte Unterschriftensammlung für Volksentscheide über die Annahme des Lissabonner Vertrages in den Mitgliedsländern der EU aktiv zu unterstützen. Zugleich gilt es, den Bürgerinnen und Bürgern zu erklären, warum wir diesen Vertrag aus inhaltlichen Gründen ablehnen, nicht »aus Prinzip«. Aber die klare Kursnahme auf Militarisierung und Ausbau militärischer Angriffsfähigkeit, auf Überwachung und Abschottung gegenüber den Menschen aus anderen Ländern, auf fortgesetzte neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik und das Festhalten an entscheidenden demokratischen Defiziten zwingen uns zum »Nein!«. Zweitens müssen wir die EU bis in die Kommune erlebbar machen und politischen Druck hin zu ihrer demokratischen Veränderung, ausgehend von lokalen Initiativen bis in die europäischen Netzwerke, von den Gemeinderäten bis in das Europaparlament entwickeln. Das verlangt, ständig die Kommunikation, Vernetzung und Kooperation mit anderen demokratischen politischen Akteuren zu suchen. Dazu sollten wir drittens konzeptionell initiativ sein und uns an europäischen Projekten beteiligen, die zugleich auf eine andere EU-Politik und die Entwicklung einer demokratischen europäischen Zivilgesellschaft zielen. Das bedeutet Beteiligung an der Diskussion zur »Charta der Prinzipien für ein anderes Europa«, die aus dem Sozialforumsprozess hervorgeht, und – bei strikter Achtung ihrer geltenden Arbeitsgrundlage – die Teilnahme an den europäischen Sozialforumsprozessen insgesamt.
Quelle:
Neues Deutschland