Ein Kampf der Grundrichtungen – Interview in Neues Deutschland am 19. Juni 2008
Interview in Neues Deutschland am 19. Juni 2008
Kaufmann: Ob die EU als politischer Staatenverbund überlebt, ist offen
ND: Sie gehören zu den Befürwortern des EU-Vertrags in der Linken. Hat Sie das Nein enttäuscht?
Kaufmann: Das ist völlig unerheblich. Die wichtigste Frage ist vielmehr: Wie wird es mit der Europäischen Union weitergehen? Die EU befindet sich in einer tiefen Legitimationskrise, weil die Bürgerinnen und Bürger ihr zunehmend das Vertrauen entziehen. Sie empfinden den Binnenmarkt als soziale Bedrohung. Und es sind vor allem die Nationalisten und Europaskeptiker, die auf Grund der neoliberalen Politik europaweit Auftrieb erfahren haben. Diese Kräfte stellen eine wachsende Gefahr für die europäische Einigung dar.
Wie kann es denn weitergehen?
Ob die EU als politischer Staatenverbund der 27 überlebt, ist offen. Es stellt sich jetzt die Frage, wen die Europäische Union schützt – die Menschen oder die Märkte? Der Kampf zwischen den beiden Grundrichtungen der europäischen Politik – zwischen den Kräften, die eine politische Union mit einer sozialen Dimension anstreben, und jenen, die eine EU als Freihandelszone mit fortgesetztem Lohn- und Sozialdumping wollen – wird sich deutlich verschärfen. Als Linke sollten wir alles tun, um zu verhindern, dass die EU zu einer reinen Freihandelszone ohne soziale Haftung verkommt.
Würde nicht gerade der Lissabon-Vertrag für eine solche Freihandelszone die Weichen stellen?
Nein, genau deshalb ist er aus dem bürgerlichen Nein-Lager in Irland so vehement bekämpft worden. So hat ein Unternehmer, der Millionensummen in die Nein-Kampagne pumpte, ein irisches Dauerveto gegen jegliche Steuerharmonisierung in der EU verlangt. Es wäre katastrophal, würde dem stattgegeben. Ein anderes Beispiel: In der Kampagne wurden die verstärkte Bürgerbeteiligung und größere Mitsprache der nationalen Parlamente eingefordert. Genau dies aber ist in dem Vertrag enthalten.
Wäre es nicht eine Aufgabe der Linken, diese Punkte wieder aufzugreifen und dafür eine europäische Lösung zu finden?
Es ist damit zu rechnen, dass die Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfel die Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses beschließen und auch die irische Regierung auffordern, ihre Vorstellungen über den Fortgang der Integration auf den Tisch zu legen. Ich denke, es kommt jetzt ganz besonders darauf an, auf die Bürgerinnen und Bürger zuzugehen und sie an der weiteren Ausgestaltung der EU unmittelbar zu beteiligen. Die Innovation der europäischen Bürgerinitiative beispielsweise, die im Vertrag von Lissabon verankert ist, muss auf dem Weg zu einer politischen Einigung Europas eine Chance erhalten.
Fragen: Uwe Sattler