Die EU und der Nationalismus
Die Diskussion um die Gemeinschaft hat an Schärfe zugenommen
Im Zuge der Auseinandersetzungen um einen neuen Vertrag der Europäischen Union haben seit Vorlage des Verfassungsentwurfs durch den Konvent im Jahre 2003 in vielen Mitgliedstaaten nationalistisch motivierte Angriffe auf die supranationale Staatengemeinschaft an Schärfe und Umfang zugenommen. Nicht selten wird gefordert, die EU aufzulösen bzw. aus der Union auszutreten. Wird im europäischen Ausland von einer national-konservativen Plattform aus argumentiert, dominieren hierzulande deutsch-national geprägte Positionen.
Die Diskussion um die Gemeinschaft hat an Schärfe zugenommen
Von Sylvia-Yvonne Kaufmann, stellvertretende Vorsitzende der linken Fraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament
Im Zuge der Auseinandersetzungen um einen neuen Vertrag der Europäischen Union haben seit Vorlage des Verfassungsentwurfs durch den Konvent im Jahre 2003 in vielen Mitgliedstaaten nationalistisch motivierte Angriffe auf die supranationale Staatengemeinschaft an Schärfe und Umfang zugenommen. Nicht selten wird gefordert, die EU aufzulösen bzw. aus der Union auszutreten. Wird im europäischen Ausland von einer national-konservativen Plattform aus argumentiert, dominieren hierzulande deutsch-national geprägte Positionen.
Zu den Hauptakteuren zählen aber nicht nur rechtsextreme EU- und fremdenfeindliche Parteien wie die französische Front National Le Pens, die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), das aus der FPÖ hervorgegangene Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ), NPD, DVU und Republikaner oder die Unabhängigkeitspartei des Vereinigten Königreichs (UKIP), sondern auch einflussreiche rechtskonservative Kräfte, die wie in Polen, Tschechien und Deutschland zum Politestablishment gehören. An dieser Front agiert auch die britische Tory-Führung. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie den ursprünglichen Verfassungsvertrag wie auch den nunmehr zur Ratifizierung anstehenden Vertrag von Lissabon rigoros ablehnen bzw. heftig kritisieren. So hatte der tschechische Ministerpräsident Topolánek den Verfassungsvertrag mehrfach als einen „Haufen Mist“ bezeichnet. Tschechiens Präsident Klaus und die britischen Tories gehörten zu den entschiedensten Gegnern dieses umfassenden Reformprojekts. National-konservative Politiker aus osteuropäischen EU-Staaten bezeichneten es gar als ein verkapptes, gegen die nationale Souveränität gerichtetes marxistisch-leninistisches Projekt. Brüssel sei nur an die Stelle getreten, die weiland Moskau im Warschauer Pakt eingenommen habe.
Gegenwärtig treten diese Parteien und Kräftegruppierungen damit ins Rampenlicht, dass einige besonders vehement nationale Referenden fordern. Sie wollen auf diese Weise die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon zu Fall bringen. Mit der wüsten Parole „Wir Patrioten gegen die EU-Chaoten“ sammelte Landeshauptmann Haider (BZÖ) in Kärnten 15.000 Unterschriften. Er erreichte damit das erforderliche Quorum, um die Behörden zu einer Entscheidung über eine Volksbefragung zum Reformvertrag zu zwingen. Noch Eins drauf sattelte FPÖ-Chef Stracher: Die FPÖ wolle über den EU-Vertrag abstimmen und „nicht wie 1938 unsere Freiheit verlieren“ – gemeint ist der „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland. Im Dezember 2007 kam die FPÖ auf mehr als 100.000 Unterschriften. Für die Freiheitlichen Südtirols ist der 13. Dezember 2007, der Tag der Unterzeichnung des Lissabonner Vertrages, „ein rabenschwarzer Tag für die Demokratie in Europa“, dem jetzt eine Volksbefragung folgen müsse.
„Wahlkampfhilfe“ vor Referendum in Irland
In Großbritannien verschärften Tories und UKIP ihren Druck auf Labour-Premier Brown, um das Referendum durchzusetzen, das einst von seinem Vorgänger Blair zum Verfassungsvertrag versprochen worden war. Sie bauen darauf, dass die als euroskeptisch bekannten Briten den neuen Vertrag mehrheitlich ablehnen würden. Allerdings scheiterte ein entsprechender Antrag im Unterhaus. Auch die rechtsextreme Slowenische Nationalpartei (SNS) verband ihre Ablehnung des Vertrages mit der Forderung nach einer Volksabstimmung. Im Juli 2007 sprach sich der damalige polnische Vizepremier Giertych ebenfalls für ein Referendum aus. Seine Partei, die nationalistisch-klerikale Liga Polnischer Familien, werde sich mit Händen und Füßen gegen die Ratifizierung des Vertrages wehren, weil dieser einen „europäischen Superstaat auf Kosten polnischer Souveränität“ schaffe. In Irland, wo ein Referendum zwingend vorgeschrieben ist, wollen sich UKIP, Front National und andere aktiv in den Wahlkampf einmischen, um das Lager der Nein-Stimmen zu unterstützen. Nationalistische EU-Gegner legen es offenbar darauf an, die irische Volksabstimmung als Stellvertreter-Schlacht zu nutzen, um den Vertrag zu kippen.
Einen Schritt weiter geht die nationalistische flämische Partei Vlaams Belang. Sie strebt eine Volksbefragung darüber an, „ob wir in der EU bleiben oder nicht“. In Frankreich wollen Le Pen und sein Kompagnon, der Holocaust-Relativierer Gollnisch, ein Referendum zum Thema: „Soll Frankreich seine Unabhängigkeit gegenüber Europa von Brüssel zurückgewinnen?“ Für sie wie für die meisten Nationalisten ist die EU ein Trojanisches Pferd, das die Identität und Unabhängigkeit des Nationalstaats bedrohe. Der Verfassungsvertrag, so Le Pen und Gollnisch, sei „nicht mehr und nicht weniger als das Ende eines seit mehr als 1500 Jahren existierenden freien und unabhängigen Frankreichs“.
Offenbar animiert durch die negativen Verfassungsvoten in Frankreich und den Niederlanden hatten die „europäischen patriotischen und nationalen Parteien und Bewegungen“ im November 2005 unter der Schirmherrschaft der FPÖ in ihrer Wiener Erklärung ein „Europa der freien und unabhängigen Nationen im Rahmen eines Staatenbundes souveräner Nationalstaaten“ sowie eine „Abkehr von allen Versuchen“ gefordert, „eine Verfassung für einen zentralistischen europäischen Superstaat zu schaffen“.
Dass der Verfassungsvertrag und nunmehr der Reformvertrag das Demokratiedefizit in Europa verfestigten und in den EU-Mitgliedstaaten die parlamentarische Demokratie und die Sozialstaatlichkeit aushebeln würden, gehört zum Standardvokabular der Rechtsextremen und Nationalisten. Folgerichtig formuliert das Parteiprogramm der DVU: „Die grenzenlose und nicht mehr von unserem Volk kontrollierte Übertragung von Souveränitätsrechten an eine bürgerferne europäische Hoheitsgewalt, die unsere staatliche Eigenverantwortlichkeit aufhebt, lehnen wir ab.“ Die Republikaner verkünden: „Ohne den Nationalstaat gibt es weder Demokratie noch Sozialstaat“. Deshalb rufen sie unter dem Motto, „den Bürokratie-Moloch Europa durch ein Europa der Vaterländer’ ersetzen“, zur „Neugründung Europas“ auf. Im Europawahlprogramm der NPD heißt es: „Am Beispiel der EU lässt sich zeigen, wie nationale Souveränität, wirtschaftliche und währungspolitische Selbstbestimmung, nationale und regionale Kulturen und soziale Sicherheit der Vorstellung vom immerwährenden wirtschaftlichen Fortschritt zum Opfer fallen können.“
Stichwortgeber nicht nur für die Anti-EU-Attacken der deutschen Rechtsextremen, sondern auch für die EU-Polemik der Rechtskonservativen ist der prominente Staats- und Verwaltungsrechtler Schachtschneider. Er publizierte dazu in der rechtsradikalen „Jungen Freiheit“ und verfasste die Begründung für die Verfassungsklage des CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler gegen das vom Bundestag im Mai 2005 angenommene Zustimmungsgesetz zum Verfassungsvertrag mit.
Nicht von ungefähr veröffentlichte die großbürgerliche Zeitung „Die Welt“ am 27. März 2007 einen Aufsatz von Schachtschneider, in dem er die zwei Tage zuvor verabschiedete Berliner Erklärung konterkarierte, mit der unter deutscher Ratspräsidentschaft Anlauf genommen wurde, um einen neuen Konsens zwischen allen EU-Mitgliedstaaten aufzubauen und so Wege aus der Verfassungskrise zu eröffnen. Deutschland, so lautete sein Fazit, dürfe gemäß Grundgesetz nicht Mitglied in einer solchen EU sein: „Wer das Recht verteidigen will, muss aus der Union ausscheiden“. Nach 50 Jahren europäischer Integration sei die Bundesrepublik „kein Rechtsstaat mehr, in dem durch Gewaltenteilung und Rechtsschutz die Grundrechte gesichert sind“. Den Verfassungsvertrag diffamierte Schachtscheider als den „Versuch eines neuen Ermächtigungsgesetzes“, mit dem „die Todesstrafe wieder ermöglicht“ werde.
Es ist durchaus kein Zufall, dass in der Bundesrepublik die Kritik an der EU aus deutsch-nationaler Perspektive zunimmt. Einst wurde sie unisono als Projekt gefeiert, von dem man glaubte, dass es dem um die DDR größer gewordenen Deutschland im engen wirtschaftlichen und monetären Verbund mit anderen Staaten ermöglichen würde, eine Vormachtrolle in Europa zu übernehmen. Aber die EU behauptete sich als Konsensgemeinschaft, weil sie in der globalisierten Welt von heute als politische und Wirtschaftsmacht nur dann effizient agieren kann, wenn sie den steten Ausgleich der konkurrierenden wirtschaftlichen und politischen Interessen aller ihrer nunmehr 27 Mitgliedstaaten im Auge behält. Das aber zwingt zur vertieften politischen Integration, zur Demokratisierung ihrer Strukturen und Entscheidungsmechanismen. Den Höhepunkt bildeten dabei die Einberufung des Konvents und das Zustandekommen des EU-Verfassungsvertrages, dessen Substanz in den Vertrag von Lissabon einging. Ein Nebenprodukt dieses Prozesses ist aber auch, dass das anvisierte Ziel Schiffbruch erlitt, in der EU vom einstigen deutsch-französischen Zweigang zum deutschen Alleingang überzugehen.
Deutsch-nationale Perspektive
Vor diesem Hintergrund erklären sich wohl auch die Anleihen aus dem deutsch-nationalen Lager in Veröffentlichungen von Alt-Bundespräsident Herzog und dem Direktor des Centrums für Europäische Politik (CEP) Gerken im ersten Halbjahr 2007, mit denen sie der damaligen deutschen Ratspräsidentschaft dicke Kuckuckseier ins Nest legten. In einem Beitrag für die „Welt am Sonntag“ vom 14. Januar warnten sie populistisch garniert vor einer „intransparenten Union“, die „zu viel Macht an sich ziehe“ und in Deutschland gar die parlamentarische Demokratie gefährde. Der mit dem Verfassungsvertrag gefundene Konsens, wonach die erweiterte EU nur handlungsfähiger wird, wenn im Rat mehr Politikbereiche von der Einstimmigkeits- in die Mehrheitsentscheidung übergehen, sei „schleichende Zentralisierung“. Aber damit nicht genug. Zwei Tage vor dem in Sachen EU-Vertrag alles entscheidenden Gipfel des Europäischen Rates legten Herzog und Gerken nach. In einem Beitrag für „Die Welt“ vom 19. Juni stellten sie fast das gesamte, wesentlich demokratischer als bisher austarierte europäische Institutionen-Gefüge infrage. Der Verfassungsvertrag stelle „die Weichen in Richtung auf einen Bundesstaat“ und schreibe eine „Untergewichtung“ Deutschlands im Europaparlament fort (dem statt 99 künftig nur noch 96 deutsche Abgeordnete angehören). Es verwundert nicht, dass sowohl Tory-Chef Cameron, strammer Gegner einer politischen Union, als auch der Fraktionsvorsitzende der NPD im sächsischen Landtag Zustimmung bekundeten.
Der Beitrag erschien leicht gekürzt in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ vom 12./13. April 2008.