„Besser als Nizza“ – „Schlechter als notwendig“

Knut Pries

Gabi Zimmer und Klaus Hänsch streiten über den Lissabonner EU-Vertrag

„Besser als Nizza“ – „Schlechter als notwendig“

Gabi Zimmer und Klaus Hänsch streiten über den Lissabonner EU-Vertrag

Frage: Frau Zimmer, Herr Hänsch, bevor Sie sich streiten – können wir einen Punkt vermuteter Einigkeit erledigen? Erhebt sich Widerspruch gegen die Feststellung, dass der Text eine Zumutung für den Bürger ist und das Ziel, das europäische Grundrecht den Menschen näher zu bringen, kläglich verfehlt?

Zimmer: Kein Widerspruch.

Hänsch: Der Vertrag ist von der Lesbarkeit her eine Zumutung, vom Inhalt nicht. Da bringt er die EU ein großes Stück voran.

Frage: Herr Hänsch, Sie waren Mitglied im Präsidium des Konvents, der die Verfassung ausarbeitete, aus der dann ein Mini-Vertrag wurde. War’s das, oder werden die Europäer in absehbarer Zukunft doch noch eine Verfassung bekommen?

Hänsch: Das ist kein Mini-Vertrag. Alle wesentlichen Teile der Verfassung sind darin eingegangen. Ich kann nicht sehen, dass die Regierungen und Parlamente der EU in absehbarer Zeit eine neue Vertragsreform unternehmen werden.

Frage: Ganz summarisch: Ist Lissabon besser als Nizza?

Hänsch: 20, 30, 40 Mal besser als Nizza!

Zimmer: Besser als Nizza, aber schlechter als notwendig.

Frage: Sie lehnen den Vertrag ab, obwohl Sie sagen: ein Fortschritt gegenüber dem, was wir haben?

Zimmer: Ja. Das Entscheidende ist: Der Vertrag versperrt den Weg zu einer wirklichen Verfassung.

Frage: Frau Zimmer, Ihre Partei kritisiert den Vertrag als Schritt zum militärischen Kerneuropa, zur Militärunion. Es gibt aber schon eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Rüstungsagentur und Militärausschuss. Schreien Sie nicht einem Zug hinterher, der abgefahren ist?

Zimmer: Überhaupt nicht. Wenn ich etwas für falsch halte, muss ich auf Veränderung drängen. Wenn sich die EU auf einer solchen Grundlage definiert, muss ich sagen: Ändert das, sonst kriegt ihr unsere Zustimmung nicht. Von der EU wird etwas anderes erwartet: eine klare Ausrichtung auf das friedliche Miteinander der Völker. Nicht der Anspruch, militärisch mit den USA zu konkurrieren. Außerdem fehlt es an der parlamentarischen Kontrolle.

Hänsch: Die EU braucht eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Wir müssen in der Lage sein, überall in der Welt, wo Sicherheit bedroht ist und Menschen durch Mord und Völkermord bedroht sind, einzugreifen. Dazu muss sich die Europäische Union die Instrumente schaffen. Deren Einsatz ist strikt gebunden an die UN-Charta und damit völkerrechtlich eingehegt. Und: Über den Einsatz deutscher Soldaten wird in Deutschland entschieden.

Frage: Der deutsche Parlamentsvorbehalt …

Zimmer … wird ausgehebelt! Bei Eilentscheidungen sind alle zur Loyalität und zur Mitfinanzierung verpflichtet, auch wenn sie gegen den Einsatz sind. Nur mit einer Stimmenthaltung kann die Bundesregierung dafür sorgen, dass der Bundestag überhaupt noch gefragt wird.

Hänsch: Die Bundeswehr bleibt eine Parlamentsarmee. Das kann durch den Vertrag nicht ausgehebelt werden. Das Grundgesetz bleibt gültig, ein Angriffskrieg bleibt ausdrücklich verboten.

Zimmer: Das kommt doch immer auf die Auslegung an. Wer definiert denn zum Beispiel, was „europäisches Sicherheitsinteresse“ ist, zum Beispiel bei der Energieversorgung? Ich habe keinen Bedarf an einer europäischen Armee oder Einsatztruppen. Wenn irgendwo auf der Welt ein Einsatz nötig wird, kann man sich unter Führung der UN daran beteiligen.

Hänsch: Von einer europäischen Armee steht kein Wort im Vertrag!

Frage: Es steht da aber, dass die Entwicklung „zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann“.

Hänsch: Kann! Dazu ist ein einstimmiger Beschluss der Mitgliedstaaten, also auch der Bundesrepublik, erforderlich.

Frage: Sehen Sie perspektivisch eine Notwendigkeit für eine europäische Armee?

Hänsch: In den nächsten 10. 20 Jahren ist das weder möglich noch nötig.

Zimmer: Und was ist mit der Europäischen Rüstungsagentur? Da frage ich mich, ob die EU die Agentur kontrolliert oder umgekehrt. Sie hat das Recht zu entscheiden, was militärisch nötig ist und wo nachgelegt werden muss.

Hänsch: Die Agentur hat keine Entscheidungsbefugnisse. Entscheidungen über Rüstung und Ausgaben für Rüstung liegen allein bei den Mitgliedstaaten.

Herr Hänsch, der Lissabonner Vertrag verpflichtet die Mitgliedstaaten, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“. Im Grundgesetz steht sowas nicht. Ist das nicht zugleich ein Freifahrtschein für Rüstungsexporte?

Hänsch: Das ist kein Freifahrtschein. Aber wenn ich es für notwendig halte, dass Soldaten der EU in Krisensituationen eingesetzt werden können, muss ich dafür sorgen, dass sie das beste Material zur Verfügung haben. Über Rüstungsexporte und deren Einschränkungen bestimmt nicht der Vertrag, sondern die Regierungen.

Frage: Frau Zimmer, ist das tatsächlich ein Gewinn, wenn alles Militärische unter rein nationaler Regie verbleibt?

Zimmer: Es sollte in nationaler Regie verbleiben, mit einer klaren Friedensausrichtung. Die europäischen Staaten haben aufgrund ihrer Geschichte ein sehr unterschiedliches Interesse am Einsatz ihrer Verteidigungsmittel. Wenn ich ihnen das wegnehme, nehme ich ein Stück Friedensfähigkeit weg, zugunsten irgendwelcher angeblicher europäischer Interessen, etwa bei einem Streit um Energieversorgung mit Russland. Ich möchte nicht, dass ein Vertrag eine solche Option überhaupt möglich macht.

Hänsch: Die EU nimmt den Mitgliedstaaten nichts weg, sondern diese übertragen etwas auf die EU. Der Generalsekretär der UN hat sich bereits mehrfach an die EU – nicht an einzelne Mitgliedstaaten – mit der Bitte um militärische Hilfe gewandt, zum Beispiel im Kongo. Und was Russland anlangt – das war einer sichersten Energie- Lieferanten schon zu UdSSR-Zeiten.

Frage: Ein Vertrag, der die EU auf soziale Marktwirtschaft verpflichtet, Vollbeschäftigung und Gleichheit zum Ziel erklärt und den freien Wettbewerb zum Instrument zurückstuft, kann nicht unsozial sein. Richtig?

Zimmer: Nicht richtig. Die Grundrechtecharta formuliert Ziele, die ich unterstütze, die aber oft nicht individuell einklagbar sind. Da wurde eine Chance vertan, die Identifikation mit der EU zu unterstützen. Außerdem lässt die Rechtsprechung des EU-Gerichts befürchten, dass bei der Auslegung die Interessen des freien Binnenmarkts über die Schutzrechte der Beschäftigten gestellt werden.

Hänsch: Der Vertrag lässt alle Möglichkeiten offen, eine sozial gerechtere Politik in der EU zu machen. Dafür brauchen wir aber Mehrheiten – im EU-Parlament wie in den Mitgliedstaaten. Wenn die Liberalen etwa „die wohlfahrtsstaatlichen Elemente“ des Vertrags kritisieren, sind wir offenbar auf dem richtigen Weg.

Frage: Herr Hänsch, haben Sie sozialpolitische Bauchschmerzen mit dem Lissabon-Vertrag? Oder ist das eine prima sozialdemokratische Rechtsgrundlage?

Hänsch: Ich hätte den Vertrag natürlich anders formuliert. Aber es ist nichts drin, das mir als Sozialdemokraten wirklich Bauchschmerzen macht. Die Grundlage ist da – ich brauche bloß die Mehrheiten.

Frage: Die Mehrheiten in den EU-Gremien sind gegen die Linke. Ist unter diesen Umständen der Vertrag nicht mehr als die Linke erwarten durfte?

Zimmer: Es ist richtig, dass die Linke mit ihren Positionen in der Minderheit ist. Aber das macht die Kritik nicht falsch. Der Lissabon-Vertrag hat brauchbare Bestandteile – zusätzliche Rechte für das Parlament zum Beispiel. Aber in der Abwägung zwischen dem, was ich unterstütze, und dem, was ich nicht unterstützen kann, neigt sich die Waage zu einem klaren Nein.

Frage: Was leistet der Vertrag beim Abbau des Demokratiedefizits der Union?

Zimmer: Sein Zustandekommen sendet das falsche Signal an die Bürgerinnen und Bürger: Ihr habt euch erdreistet, in zwei Ländern gegen die Verfassung zu stimmen. Also nehmen wir euch – außer in Irland – das Recht auf Mitsprache. Die EU bleibt eine Union der Regierungen. Das Bürgerbegehren ist ein richtiger Schritt, aber die Umsetzung bleibt vage. Und bei Organen wie der Rüstungsagentur fehlt die parlamentarische Kontrolle.

Hänsch: Es ist demokratisch, dass jedes Land nach seiner eigenen Verfassung über den Vertrag entscheidet. Die EU ist keine Demokratie-Lehrmeisterin. Bis auf wenige Ausnahmen wird das EU-Parlament gleichberechtigter Gesetzgeber – ein Gewinn für die Demokratie, ebenso wie das neue Instrument des Bürgerbegehrens. Auch die nationalen Parlamente bekommen ein stärkeres Mitsprache-Recht.

Frage: Wann bekommen wir das erste EU-Bürgerbegehren, und was könnte der Gegenstand sein?

Zimmer: Beispielsweise die Frage, wie weit die Bürgerinnen und Bürger über die Grundlagen ihrer Union demokratisch entscheiden können. Solche Initiativen werden in Kürze gestartet werden.

Hänsch: Das wird bald nach Inkrafttreten des Vertrags passieren. Die Bürgerbegehren können aber nicht auf dem Weg über die EU die nationalen Verfassungen umgehen. Sie müssen sich auf die europäische Politik konzentrieren. Die Bürger könnten sich etwa für oder gegen die Kernkraft aussprechen. Die Konsequenz müssen aber die Mitgliedstaaten ziehen, weil die EU das nicht entscheiden darf.

Frage: Vollenden Sie bitte diesen Satz: „Wenn dieser Vertrag Recht wird, dann werden Europas Bürger …

Zimmer: .. dann wird den europäischen Bürgerinnen und Bürgern die Chance genommen, sich mit dem Projekt Europäische Union zu identifizieren.“

Hänsch: … dann werden Europas Bürger in einer handlungsfähigeren und demokratischeren Union leben, die auch mit 27 Mitgliedstaaten eine Zukunft hat“

Quelle:
WAZ Gruppe www.derwesten.de