Im Fegefeuer der Eitelkeiten
Die Debatte um den Armutsbericht darf nicht von Schönfärberei verfälscht werden
Der Sozialstaat wirkt. Mit dieser Botschaft trat gestern Bundesarbeitsminister Scholz in die Öffentlichkeit. Er begründete, dass ohne Sozialtransfers doppelt so viele Menschen in Deutschland (26 % statt 13 %) in Armut stürzen würden.
Die angekündigte Vorlage eines Armuts- und Reichtumsberichts in Deutschland sollte von einer öffentlichen Debatte begleitet werden, die in aller Radikalität die wirklichen Lebenslagen von Millionen Menschen thematisiert und die Ursachen für diese beschämende Entwicklung schonungslos aufdeckt.
Diese Diskussion sollte um zwei Aspekte dringend bereichert werden:
1. Armut aus Arbeitseinkommen wächst in besorgniserregender Weise in der gesamten Europäischen Union ebenso wie in Deutschland. Selbst die EU- Kommission kommt nicht mehr umhin, einzugestehen, dass Beschäftigung per se keinen ausreichenden Schutz vor Armut bietet. „Working poor“ ist aber die direkte Folge einer zwischen allen EU-Mitgliedsstaaten abgestimmten Beschäftigungsstrategie, die auf die Förderung eines Arbeitsmarktes zielt, der in erster Linie die Wirtschaftsmacht EU im globalen Wettbewerb stärken soll, Beschäftigte und Arbeitssuchende aber als Wirtschaftsfaktor reduziert.
Eine auch nur ansatzweise Verknüpfung von Beschäftigungspolitik mit Maßnahmen zum Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung, zur Hebung der Qualität der Arbeit, zur Stärkung des Sozialschutzes, zur Sicherung gerechter Arbeitseinkommen, zur Durchsetzung des Prinzips „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ wird verweigert.
Die Bundesregierung ist gefordert, endlich umzuschwenken und sowohl im Europäischen Rat als auch auf nationaler Ebene für eine Beschäftigungsstrategie einzustehen, die wenigstens auf das Konzept der „Guten Arbeit“ zurückgreift. Mit ihrer Unterstützung für die „Flexicurity“-Politik der Kommission und des Rates, ihrem Ziel der Verlängerung der Lebens- und der Wochenarbeitszeit, ihrer Verweigerung EU weiter Armut verhindernder Mindesteinkommen trägt sie selbst maßgeblich zum Anstieg von Einkommensarmut und zum weiteren Auseinanderklaffen der Schere zwischen hohen und niedrigsten Einkommen, zwischen sicheren und prekären Beschäftigungsverhältnissen bei.
Angesichts der dramatischen Armutsentwicklung fordere ich die Bundesregierung auf, ihr Konzept der „aktivierenden Arbeitsmarktpolitik“, für das sie auch in der EU eine Vorreiterrolle übernommen hat, endlich zu korrigieren!
2. Die Vorlage des Armuts- und Reichtumsberichts in Deutschland wirft die Frage auf, ob es Aufgabe des Sozialstaates ist, dauerhaft einen immer größeren Teil von Arbeitsplätzen zu finanzieren und damit Wirtschaftsunternehmen aus öffentlichen Mitteln direkt zu subventionieren.
Ein Sozialstaat, der sich bedenkenlos globalen Konkurrenzdenken unterwirft, die Sozialpflicht der Wirtschaft und der Unternehmen gar nicht erst einfordert, den Wettbewerbsdruck auf Beschäftigte, Arbeitslose und sozial Ausgegrenzte umleitet und diesen im günstigsten Fall lediglich abmildern will, gerät immer mehr in die Sackgasse und zerstört sich selbst.
Ein zukunftsfähiges Sozialmodell kann nur darauf gegründet sein, allen Menschen in der EU und auch in Deutschland, die an Existenz sichernder sinnvoller – und daher auch an ökologisch verantwortbarer – bezahlter Arbeit teilhaben wollen, dies zu ermöglichen. Das erfordert eine andere Prioritäten setzende alternative Wirtschaftspolitik, darunter die Diskussion um eine neue Art der Vollbeschäftigung, um die volle soziale Absicherung der Teilzeitarbeit oder auch um Arbeitszeitverkürzungen in vielfältiger Form.
Es erfordert die Durchsetzung eines europäischen „Gute-Arbeit-Konzepts“,, das mit Mindestlöhnen verknüpft ist, deren Untergrenze mindestens 60% des nationalen Durchschnittslohnes – der von Eurostat seit Jahren angewandten Armutsrisikogrenze- betragen sollte.
Die Bundesregierung fordere ich auf, das für 2010 angekündigte „Europäische Jahr des Kampfes gegen Armut und Ausgrenzung“ für den längst fälligen Einstieg Europas und damit Deutschlands in eine sozial nachhaltige Entwicklung zu nutzen.
Die Diskussion um den vorzulegenden Armuts- und Reichtumsbericht darf nicht ins Leere laufen, indem sich Minister nach dem Motto „Der Sozialstaat wirkt“ feiern, sondern indem sich die Bundesregierung für ein konzertiertes Vorgehen der EU gemeinsam mit allen Mitgliedstaaten soziale, ökologische und kulturelle Mindeststandards als verbindliche Ziele setzt:
– für die Überwindung von Armut, insbesondere Kinderarmut, von Arbeitslosigkeit, sozialer Ausgrenzung und struktureller Benachteiligung – insbesondere von Frauen,
– für die öffentliche Versorgung mit Gesundheits-, Kinderbetreuungs-, Bildungs-, Pflege- und Beratungsleistungen,
– für die Reduzierung des Ausstoßes von klimaschädlichen Gasen, der Schadstoffemissionen, von Energieverbrauch, Flächenversieglung oder auch Lärmbelastung.