So! Die Zeitung der LINKEN in Sachsen, Ausg.Juli 2008

Sylvia-Yvonne Kaufmann zur Abstimmung über den Lissaboner Vertrag

Wir können das irische Volk nur beglückwünschen. Es durfte über den Lissabonner Vertrag abstimmen. Uns wurde dieses demokratische Recht verwehrt. All unsere Bemühungen, auch im Europaparlament, einen EU-weiten Volksentscheid herbeizuführen, scheiterten an der ablehnenden Haltung der nationalen Staats- und Regierungschefs, wobei sich die Bundesregierung besonders abweisend verhielt. Von daher verwundert es nicht, dass immer mehr Menschen der EU ihr Vertrauen entziehen und nationalistische Demagogen Aufwind erfahren. Die EU stürzte in eine selbstverschuldete Legitimationskrise, deren Folgen noch nicht absehbar sind. Das ist die eine Seite der Medaille. Aber es gibt noch eine zweite, die eher Fragen aufwirft. Wie kam es zu dem Nein, was verbirgt sich dahinter und wie geht es weiter?

Schauen wir uns zunächst die Referendumskampagne etwas näher an, wies sie doch erstaunliche Merkwürdigkeiten auf. Unter der Losung „A better deal for Ireland“ (Ein besseres Ergebnis für Irland) formierte sich eine breite Nein-Koalition. Sie reichte von konservativen Kirchenkreisen, über einen auf die Interessen der USA-Wirtschaft fixierten irischen Multimillionär, der Millionensummen in die Kampagne pumpte und dem obskure Verbindungen zur CIA nachgesagt werden, bis hin zur Linkspartei Sinn Féin. Massiv zugunsten des Nein-Lagers engagierten sich die marktradikale und euroskeptische britische Murdoch-Presse sowie der erzkonservative Ex-Botschafter der USA bei der UNO und Bush-Freund John Bolton. Nicht zu vergessen die irische Agrarindustrie, die auch künftig Brüsseler Agrarsubventionen haben will, obwohl diese bekanntlich die Landwirtschaft in der südlichen Hemisphäre ruinieren. Nur Sinn Féin machte auf soziale Verwerfungen aufmerksam, die mit dem Lissabonner Vertrag verbunden seien. Aber auch bei ihr standen nationale Anliegen im Vordergrund, so der Schutz des irischen Steuersystems, die Forderung nach Behalt eines permanenten irischen Kommissars in Brüssel oder die Bewahrung der irischen Neutralität, die durch Lissabon allerdings nicht infrage gestellt wird. Das Ja-Lager rekrutierte sich aus allen Regierungs- und zwei Oppositionsparteien. Es agierte ziemlich defensiv. Kurz vor der Abstimmung erklärte der irische EU-Kommissar McCreevy, der in Brüssel tagaus, tagein mit der Deregulierung des Binnenmarkts beschäftigt ist, er habe den Vertrag nicht einmal gelesen. Diese Äußerung bildete eine Steilvorlage für die Nein-Kampagne, und es darf diesem Politprofi gewiss unterstellt werden, dass er wusste, was er tat.

Bei einer Wahlbeteiligung von 53,1% endete das Referendum mit 53,4% Nein- gegenüber 46,6% Ja-Stimmen. Ländlich geprägte und infrastrukturell abgehängte Regionen im Westen Irlands stimmten gegen den Vertrag, ebenso die Arbeiterviertel Dublins und die größeren Städte Limerick, Cork und Galway. Inzwischen liegen präzise Angaben zum Stimmverhalten vor. Ins Auge fällt, dass mehr als die Hälfte aller Nichtwähler sagten, sie hätten nicht gewusst, worum es bei dem Referendum eigentlich ging. Für das Nein spielten sehr unterschiedliche Motive eine Rolle. Auch hier meinten 22%, den Lissabon-Vertrag nicht genügend zu kennen. 18% war der Schutz der irischen Identität und Neutralität wichtig. Für jeweils 6% ging es um das Recht, in Brüssel ständig einen irischen Kommissar zu haben, das irische Steuersystem zu erhalten (also keine gemeinsame Steuerharmonisierung in der EU zu akzeptieren) und um generelles Misstrauen gegenüber Politikern. Jeweils 4% stimmten mit Nein, weil sie eine Dominanz der Großen in der EU befürchten, weil sie es ablehnen, dass die EU in globalen Fragen mit einer Stimme spricht bzw. weil sie gegen die irische Regierungspolitik protestieren wollten. 3% gaben an, kleinere Staaten zu schützen, und 2% wollten mit ihrem Nein verhindern, dass in Irland durch europäisches Recht angeblich Abtreibung, Euthanasie und gleichgeschlechtliche Ehen möglich werden.

Ebenso wie das konservative Nein-Lager ist Sinn Féin der Auffassung, dass nun der Reformvertrag am Ende sei. Zugleich forderte ihre Europaabgeordnete Mary Lou McDonald die Regierung zu Nachverhandlungen zu diesem Vertrag auf, um bessere Konditionen für Irland zu erreichen. Klar ist: Das Nein-Votum richtete sich nicht gegen ein vermeintliches EU-„Imperium“, wie mitunter behauptet wird. Dafür spricht, dass 80% der Nein-Wähler die irische Mitgliedschaft in der EU unterstützen. Auch deshalb ist weder ein Kerneuropa, wie es Leitartikler der großbürgerlichen Zeitung „Die Welt“ empfehlen, noch eine „Klein-EU“, wie sie Jürgen Elsässer den Linken im ND vom 20. Juni nahelegte, der Königsweg zur Lösung der EU-Reformkrise. Ein „Eiserner Vorhang light“ an Oder und Neiße entspricht ebenso wenig meiner Vision von Europa wie ein deutsch dominiertes Kerneuropa.

Sylvia-Yvonne Kaufmann, Europaabgeordnete der Partei DIE LINKE.

Der Artikel erschien in SO! Die Zeitung der Linken in Sachsen Ausgabe Juli-August 2008