Wer sprengt den Frieden? von Prof. Ingolf Pernice in „Neues Deutschland“ vom 21.06.2007

Die EU und ihre Verfassung – Aufklärung über linke Irrtümer und Missverständnisse

Moderne Mythen, Missverständnisse und bewusste Verfälschungen prägen die öffentliche Debatte um den Vertrag über eine Verfassung für Europa stärker als so manches andere politische Thema. Sie haben nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass die Referenden in Frankreich und in den Niederlanden negativ ausgingen. Sie drohen, den Verfassungsprozess zu blockieren oder – viel gravierender – das Projekt der europäischen Integration insgesamt und damit den bisher erfolgreichsten Entwurf zur Sicherung des Friedens in Europa und in der Welt zu sprengen. Wird hiergegen Aufklärungsarbeit geleistet, so kann das nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Der Zeitpunkt, den betreffenden Fehldeutungen entgegenzutreten, ist gut gewählt: zum Juni-Gipfel, an dem die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (heute) zusammentreten, um die seit zehn Jahren überfällige Reform der EU nach über 30 Monaten Denkpause zum Abschluss zu bringen. Sylvia-Yvonne Kaufmann und Jens Wolfram bemühen sich um Richtigstellung – zu recht engagiert, aber sachlich, wohl primär an die eigene Partei gerichtet, aber lesenswert für alle, die Europa und das Anliegen seiner 2004 in Rom unterzeichneten Verfassung verstehen wollen und ernst nehmen.

Das Buch vermittelt die »Innensicht« eines Konventsmitglieds, es zeichnet die Arbeit des Konvents und die wesentlichen Neuerungen der von ihm erarbeiteten Verfassung nach, es bewertet die negativen Voten in Frankreich und in den Niederlanden mit ihren Folgen und es präsentiert die acht gängigen Lösungsoptionen zur Überwindung der Verfassungskrise, bevor treffend, informativ und spannend »Linke Irrtümer und populäre Missverständnisse« aufgespießt werden. Durch ein fiktives Frage- und Antwortspiel gelingt es den Autoren, den komplexen Stoff lebendig, verständlich und überzeugend abzuhandeln. Dem: »Ich habe gehört …«, stellen sie Tatsachen aus ihrer Sicht entgegen. So wird zur These, dass die EU-Verfassung durch das französische und niederländische »Nein« sowohl politisch als auch rechtlich »tot« sei, erklärt, warum die Ratifikation zwar rechtlich nicht zu erzwingen ist, die Verpflichtung zur Suche nach einer politischen Lösung im Sinne einer »loyalen Zusammenarbeit« aber durchaus besteht.

Ob der Verfassungsvertrag einen europäischen Bundesstaat begründe, in Wirklichkeit also eine »Mogelpackung« sei, ist das nächste Thema im einleitenden Teil. Dann geht es um das Verhältnis zwischen Grundgesetz und europäischer Verfassung und um die unsinnige Gleichsetzung der Mitgliedschaft in der EU mit der im Warschauer Pakt. Ob die EU-Verfassung zu Krieg verpflichte oder Angriffskriege als Mittel europäischer Politik fortan ausschließe, sind die Fragen, mit denen der Abschnitt »Frieden« eingeleitet wird: Die neuen Bestimmungen des Verfassungsvertrags bringen hier im Blick auf die schon real laufenden Entwicklungen in der Tat keinen »neuen Schub« mit sich. Kritisch bemerkt Sylvia-Yvonne Kaufmann aber auch, dass ihre Vorschläge im Konvent zur Gründung einer »Agentur für Abrüstungskontrolle«, eines »Amts für Abrüstung und Rüstungskontrolle« nicht übernommen wurden.

Besonderes Augenmerk gilt der »Sozialstaatlichkeit«. Gegen die These, die Europäische Verfassung zementiere den Neoliberalismus in der EU, richtet sich nicht nur der Hinweis auf einschlägige Neuerungen in den für alle Bereiche bindenden Zielbestimmungen, wie etwa die Verpflichtung auf die »soziale Marktwirtschaft« in Artikel I-3. Die heftige Kritik liberaler Kreise, mit dem Verfassungsvertrag bewege sich die Union in Richtung Sozialismus (Vaclav Klaus) deutet sicherlich in eine andere Richtung. Wichtiger sind vielleicht die neue sozial- und beschäftigungspolitische Komponente der Wirtschaftspolitik und die gelungene Verbindung von liberalen und sozialen Grundrechten in der Charta der Grundrechte. Sie sprechen dafür, dass die Verfassung eine bessere Balance zwischen Freiheit und Solidarität in der EU herstellt.

Im folgenden Abschnitt »Grundrechte« treten die Autoren den Behauptungen entgegen, die Charta der Grundrechte höhle den Grundrechtsschutz in den Mitgliedstaaten aus, oder sie gelte nicht für den Teil III der Verfassung. Dass mit der Verfassung Grundrechte und auch der entsprechende Rechtsschutz sich künftig auch auf die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen beziehen, ist eine wesentliche Neuerung. Hier behandeln die Autoren auch die offenbar von der Vereinigten Linken Spaniens in der Kampagne gegen die Verfassung vertretene absurde These, die Verfassung führe die Todesstrafe ein. Das Verbot in Art. II-62 II VVE sagt in der Tat genau das Gegenteil.

In Abschnitt fünf wird entgegen dem Vorwurf der Verfestigung des Demokratiedefizits aufgezeigt, dass der Grundsatz der partizipativen Demokratie erstmals für die EU in der Verfassung verankert wird. Erläutert werden auch die neuen Einflussrechte der nationalen Parlamente und die Regelungen zur Stärkung des Europäischen Parlaments bei der Gesetzgebung sowie im Budgetrecht und beim Abschluss von internationalen Verträgen. Wieso weder von einem »Direktorium« der vier großen Mitgliedstaaten die Rede sein kann, noch sonst von einer Schwächung der »Kleinen«, betrifft die Demokratie freilich nur indirekt. Angesichts der gemeinsamen Werte, wie sie in der Verfassung verankert sind, wird zu recht schließlich der Vorwurf abgewehrt, es fehlte eine »Antifaschismus-Verpflichtung« im Verfassungsvertrag.

Wer dieses Buch liest, kann viel lernen. Deutlich wird vor allem, dass mit der Verfassung kein europäischer »Superstaat« geschaffen wird. Es ist die Konsolidierung und Reform einer neuen Form überstaatlichen politischen Handelns im Interesse der Bürgerinnen und Bürger. Als Rechtsgemeinschaft beruht sie auf Freiwilligkeit und Achtung des gemeinsamen Rechts, ohne Hierarchie, ohne physische Zwangsgewalt. Vielleicht ist es dann weniger die Frage der Kompetenz-Kompetenz als die Tatsache, dass es anders als im Bundesstaat keinen »Bundeszwang« (Art. 37 GG) gibt, dass Bundesrecht nicht Landesrecht »bricht«, es keine europäische Armee, keine europäische Polizei gibt, keine Aufhebung nationaler Gerichtsurteile durch ein übergeordnetes europäisches Gericht, was den Charme und die Attraktivität der EU für alte und neue Mitgliedstaaten ausmacht, sondern das Recht, die Freiheit und die Solidarität in der EU. Die »Verfassung für Europa« nennt die Dinge beim Namen, macht die EU demokratischer, handlungsfähiger, verständlicher, bürgernäher.

Der Verteidigung ihrer Kerngehalte durch das vorliegende Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen: Ich gratuliere den Autoren!

Sylvia-Yvonne Kaufmann/Jens Wolfram: Die EU und ihre Verfassung. Linke Irrtümer und populäre Missverständnisse. Merus Verlag, 208 S., br., 17,90 EUR.

Prof. Dr. Ingolf Pernice ist geschäftsführender Direktor des Walter-Hallstein-Instituts für Europäisches Verfassungsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin

Die EU und ihre Verfassung – Aufklärung über linke Irrtümer und Missverständnisse

Moderne Mythen, Missverständnisse und bewusste Verfälschungen prägen die öffentliche Debatte um den Vertrag über eine Verfassung für Europa stärker als so manches andere politische Thema. Sie haben nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass die Referenden in Frankreich und in den Niederlanden negativ ausgingen. Sie drohen, den Verfassungsprozess zu blockieren oder – viel gravierender – das Projekt der europäischen Integration insgesamt und damit den bisher erfolgreichsten Entwurf zur Sicherung des Friedens in Europa und in der Welt zu sprengen. Wird hiergegen Aufklärungsarbeit geleistet, so kann das nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Der Zeitpunkt, den betreffenden Fehldeutungen entgegenzutreten, ist gut gewählt: zum Juni-Gipfel, an dem die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (heute) zusammentreten, um die seit zehn Jahren überfällige Reform der EU nach über 30 Monaten Denkpause zum Abschluss zu bringen. Sylvia-Yvonne Kaufmann und Jens Wolfram bemühen sich um Richtigstellung – zu recht engagiert, aber sachlich, wohl primär an die eigene Partei gerichtet, aber lesenswert für alle, die Europa und das Anliegen seiner 2004 in Rom unterzeichneten Verfassung verstehen wollen und ernst nehmen.

Das Buch vermittelt die »Innensicht« eines Konventsmitglieds, es zeichnet die Arbeit des Konvents und die wesentlichen Neuerungen der von ihm erarbeiteten Verfassung nach, es bewertet die negativen Voten in Frankreich und in den Niederlanden mit ihren Folgen und es präsentiert die acht gängigen Lösungsoptionen zur Überwindung der Verfassungskrise, bevor treffend, informativ und spannend »Linke Irrtümer und populäre Missverständnisse« aufgespießt werden. Durch ein fiktives Frage- und Antwortspiel gelingt es den Autoren, den komplexen Stoff lebendig, verständlich und überzeugend abzuhandeln. Dem: »Ich habe gehört …«, stellen sie Tatsachen aus ihrer Sicht entgegen. So wird zur These, dass die EU-Verfassung durch das französische und niederländische »Nein« sowohl politisch als auch rechtlich »tot« sei, erklärt, warum die Ratifikation zwar rechtlich nicht zu erzwingen ist, die Verpflichtung zur Suche nach einer politischen Lösung im Sinne einer »loyalen Zusammenarbeit« aber durchaus besteht.

Ob der Verfassungsvertrag einen europäischen Bundesstaat begründe, in Wirklichkeit also eine »Mogelpackung« sei, ist das nächste Thema im einleitenden Teil. Dann geht es um das Verhältnis zwischen Grundgesetz und europäischer Verfassung und um die unsinnige Gleichsetzung der Mitgliedschaft in der EU mit der im Warschauer Pakt. Ob die EU-Verfassung zu Krieg verpflichte oder Angriffskriege als Mittel europäischer Politik fortan ausschließe, sind die Fragen, mit denen der Abschnitt »Frieden« eingeleitet wird: Die neuen Bestimmungen des Verfassungsvertrags bringen hier im Blick auf die schon real laufenden Entwicklungen in der Tat keinen »neuen Schub« mit sich. Kritisch bemerkt Sylvia-Yvonne Kaufmann aber auch, dass ihre Vorschläge im Konvent zur Gründung einer »Agentur für Abrüstungskontrolle«, eines »Amts für Abrüstung und Rüstungskontrolle« nicht übernommen wurden.

Besonderes Augenmerk gilt der »Sozialstaatlichkeit«. Gegen die These, die Europäische Verfassung zementiere den Neoliberalismus in der EU, richtet sich nicht nur der Hinweis auf einschlägige Neuerungen in den für alle Bereiche bindenden Zielbestimmungen, wie etwa die Verpflichtung auf die »soziale Marktwirtschaft« in Artikel I-3. Die heftige Kritik liberaler Kreise, mit dem Verfassungsvertrag bewege sich die Union in Richtung Sozialismus (Vaclav Klaus) deutet sicherlich in eine andere Richtung. Wichtiger sind vielleicht die neue sozial- und beschäftigungspolitische Komponente der Wirtschaftspolitik und die gelungene Verbindung von liberalen und sozialen Grundrechten in der Charta der Grundrechte. Sie sprechen dafür, dass die Verfassung eine bessere Balance zwischen Freiheit und Solidarität in der EU herstellt.

Im folgenden Abschnitt »Grundrechte« treten die Autoren den Behauptungen entgegen, die Charta der Grundrechte höhle den Grundrechtsschutz in den Mitgliedstaaten aus, oder sie gelte nicht für den Teil III der Verfassung. Dass mit der Verfassung Grundrechte und auch der entsprechende Rechtsschutz sich künftig auch auf die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen beziehen, ist eine wesentliche Neuerung. Hier behandeln die Autoren auch die offenbar von der Vereinigten Linken Spaniens in der Kampagne gegen die Verfassung vertretene absurde These, die Verfassung führe die Todesstrafe ein. Das Verbot in Art. II-62 II VVE sagt in der Tat genau das Gegenteil.

In Abschnitt fünf wird entgegen dem Vorwurf der Verfestigung des Demokratiedefizits aufgezeigt, dass der Grundsatz der partizipativen Demokratie erstmals für die EU in der Verfassung verankert wird. Erläutert werden auch die neuen Einflussrechte der nationalen Parlamente und die Regelungen zur Stärkung des Europäischen Parlaments bei der Gesetzgebung sowie im Budgetrecht und beim Abschluss von internationalen Verträgen. Wieso weder von einem »Direktorium« der vier großen Mitgliedstaaten die Rede sein kann, noch sonst von einer Schwächung der »Kleinen«, betrifft die Demokratie freilich nur indirekt. Angesichts der gemeinsamen Werte, wie sie in der Verfassung verankert sind, wird zu recht schließlich der Vorwurf abgewehrt, es fehlte eine »Antifaschismus-Verpflichtung« im Verfassungsvertrag.

Wer dieses Buch liest, kann viel lernen. Deutlich wird vor allem, dass mit der Verfassung kein europäischer »Superstaat« geschaffen wird. Es ist die Konsolidierung und Reform einer neuen Form überstaatlichen politischen Handelns im Interesse der Bürgerinnen und Bürger. Als Rechtsgemeinschaft beruht sie auf Freiwilligkeit und Achtung des gemeinsamen Rechts, ohne Hierarchie, ohne physische Zwangsgewalt. Vielleicht ist es dann weniger die Frage der Kompetenz-Kompetenz als die Tatsache, dass es anders als im Bundesstaat keinen »Bundeszwang« (Art. 37 GG) gibt, dass Bundesrecht nicht Landesrecht »bricht«, es keine europäische Armee, keine europäische Polizei gibt, keine Aufhebung nationaler Gerichtsurteile durch ein übergeordnetes europäisches Gericht, was den Charme und die Attraktivität der EU für alte und neue Mitgliedstaaten ausmacht, sondern das Recht, die Freiheit und die Solidarität in der EU. Die »Verfassung für Europa« nennt die Dinge beim Namen, macht die EU demokratischer, handlungsfähiger, verständlicher, bürgernäher.

Der Verteidigung ihrer Kerngehalte durch das vorliegende Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen: Ich gratuliere den Autoren!

Sylvia-Yvonne Kaufmann/Jens Wolfram: Die EU und ihre Verfassung. Linke Irrtümer und populäre Missverständnisse. Merus Verlag, 208 S., br., 17,90 EUR.

Prof. Dr. Ingolf Pernice ist geschäftsführender Direktor des Walter-Hallstein-Instituts für Europäisches Verfassungsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin