Der Versuch, alles militärisch lösen zu wollen, ist gescheitert.
Kabul/Wooster Teerofen. Das afghanische Volk wird auch künftig die Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft benötigen. Wenn der Bundestag im Herbst über eine Verlängerung der zur Zeit drei Mandate berät, sollten die Abgeordneten allem voran über ein anderes Mandat verhandeln – weg von zum Teil martialischer Militärgewalt und hin zum Aufbau einer friedlichen Zivilgesellschaft. Das sagt André Brie, mit dem sich Hans-Joachim Guth in dessen Heimatort Wooster Teerofen im mecklenburgischen Naturpark Nossentiner/Schwinzer Heide unterhielt.
Sie waren als Abgeordneter des Europäischen Parlaments bereits des öfteren in Afghanistan – das erste mal unmittelbar nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen vor mehr als fünf Jahren. Wie schätzen Sie die Entwicklung seit Ihrem ersten Besuch ein?
Es ist ein faszinierendes, ein aufregendes Land, wenngleich auch gesellschaftlich, politisch und kulturell völlig zerstört. Die gebildete Mittelschicht, die Villen- und Künstlerviertel, die Seen, in denen Kinder badeten – das alles gibt es heute in Kabul nicht mehr. Das alles ist Ausdruck der Zerstörung einer gesamten Gesellschaft, die mehr als 30 Jahre Krieg hinter sich hat – die britische Kolonialmacht trieb hier ihr Unwesen, die Sowjetunion hat unsägliches Leid am Hindukusch hinterlassen, der blutige Bürgerkrieg sowie die Taliban rissen Wunden, die nicht verheilt sind. Afghanistan ist ein Land, das ethnisch, kulturell und politisch zerissen ist. Mit dem Einmarsch der US-Militärs waren große Hoffnungen verbunden. Die wurden nicht erfüllt. Mir sagen mittlerweile Stammesälteste, dass sie die amerikanischen Soldaten mit den sowjetischen Besatzern vergleichen. Und die haben – das ist heute bekannt – jedes nur erdenkliche Kriegsverbrechen begangen.
Sehen Sie nicht trotz alledem eine positive Entwicklung?
Schlimmer als die Talibanherrschaft konnte es nicht gehen. Insofern sind schon Fortschritte zu verzeichnen – vor allem in den ersten Jahren nach dem Einmarsch, den ich übrigens seinerzeit abgelehnt habe. Inzwischen bin ich sehr viel skeptischer, auch wegen der schwerwiegende Fehler der amerikanischen Kriegführung mit den vielen zivilen Toten. Auch die Tatsache, dass die Warlords der Nordallianz nie entmachtet, sondern in die Regierung eingebunden wurden, nährt meine Skepsis. Das alles hat die Hoffnung der Bevölkerung schwinden und den Zulauf der Taliban im Süden und Südosten wachsen lassen. Die UNO schätzt ein, dass 58 der 373 Distrikte inzwischen feindseelig sind, dass die Hälfte der Distrikte gefährdet ist. In den letzten zwei, drei Jahren ist die Entwicklung wieder ausgesprochen negativ verlaufen.
Kann man dafür die wichtigsten Ursachen benennen?
Das Schlüsselproblem liegt in dem Fakt begründet, dass Afghanistan inzwischen eine Opiumwirtschaft entwickelt hat, die – mangels anderer Alternativen – mehr als die Hälfte des Bruttosozialprodukts ausmacht. 92 Prozent der weltweiten Opium- und Heroinversorgung kommt derzeit aus Afghanistan – gegenüber der Talibanzeit wuchs der Anbau um mehr als das Hundertfache. Damit sind die Herrschaft von Warlords, Menschen- und Waffenhandel verbunden. Und der Drogenkonsum greift jetzt auch Platz in der afghanischen Bevölkerung selbst. Ein Problem, auf das die internationale Staatengemeinschaft überhaupt keine Antwort hat. Das Land braucht – soll es dennoch als positives Beispiel für das Wirken dieser Gemeinschaft gelten – eine völlig neue Politik.
Wie könnte die aussehen?
Die Warlords müssten endlich entmachtet werden. Deren Wirken ist für das ganze Land zerstörerisch. Zweitens hätten wir uns von Anfang an viel stärker auf afghanische Kräfte selbst ausrichten müssen. Die aufgebaute Armee ist schwach, korrupt, demoralisiert und von hoher Fluktuation gekennzeichnet. Das Gleiche betrifft die Polizei. Die ist unterwandert und keineswegs rechtsstaaatlichen Prinzipien verpflichtet. Das Dritte – und das ist wahrscheinlich das Entscheidende: Die Bevölkerung braucht endlich wirtschaftliche Alternativen. Auch die nach 2001 begonnene Unterstützung hat dazu geführt, dass die heimische Landwirtschaft zerstört wurde. Wir haben Weizen zu Preisen geliefert, die von den Afghanen selbst nicht gehalten werden konnten. Eigentlich müsste die afghanische Landwirtschaft über Jahre vom Weltmarkt abgeschottet werden, damit sie sich entwickeln und überleben kann. Und Viertens schließlich müssen wir uns mehr den derzeit international kaum beachteten Kräften widmen, die ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen wollen – es gibt Ansätze für eine Parteienlandschaft, es gibt eine noch kleine aber umso engagiertere intellektuelle Mittelschicht, es gibt erste Beispiele für einen unabhängigen Journalismus, für die Emanzipation der Frau. Das sind unsere eigentlichen Partner, die jegliche Unterstützung bekommen sollten.
Es gibt diverse zeitliche Szenarien für den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan. Würden Sie eine Prognose wagen?
Dazu bin ich nicht imstande. Aber es muss ein völlig anderes Mandat her. Der Versuch, alles militärisch lösen zu wollen, ist gescheitert. Wir brauchen den Aufbau wirklich unabhängiger, verlässlicher afghanischer Strukturen auf allen Gebieten. Notwendig ist ein wirtschaftlicher und ziviler Aufbau, der unter keinen Umständen mit der militärischen Mission vermengt werden darf.
Aber führende Militärs hätten es gern, wenn sie auch noch die Koordination des zivilen Wiederaufbaus in ihre Hände bekämen.
Ich sehe das negativ und ich weiß, dass die meisten nichtstaatlichen Organisationen diesen Weg auch nicht beschreiten wollen. Weil sie damit in den militärischen Bereich gezogen und somit selbst verwundbar würden. Sie wollen auch nicht in den Ruf geraten, das Tun vor allem der Amerikaner, die tote Zivilisten billigend in Kauf nehmen, auch nur in irgend einer Weise zu unterstützen. Im Gegenteil, die so genannte Terroristenjagd Operation Enduring Freedom mit ihren vielen Toten in der Zivilbevölkerung sollte besser heute als morgen ein Ende finden.
Quelle:
Nordkurier