Geschönte Bilanz

Angela Merkel habe die begrenzten bisherigen Erfolge der EU-Ratspräsidentschaft publicityträchtig vermarktet und täusche dabei über viele Probleme hinweg, schreibt André Brie (Die Linke.) in seinem Namensbeitrag. Die Ergebnisse des Klimagipfels blieben weit hinter den Erfordernissen zurück. Bei den nichtöffentlichen Verhandllungen über den EU-Vertrag erwartet er ein Gefeilsche um nationale Interessen.

„Eines ist schon jetzt sicher: Angela Merkel wird nicht in Jürgen Klinsmanns Fußstapfen treten. Noch kurz vor Beginn der Ratspräsidentschaft Deutschlands im Januar hatte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso nicht mit großen Worten gespart. „Angela Merkel kann so etwas werden wie der Jürgen Klinsmann der Politik“, meinte er gegenüber einer großen deutschen Boulevardzeitung. Vor allem sollte die Bundeskanzlerin ähnliche Begeisterung für Europa wie der Ex-Nationaltrainer für den deutschen Fußball entfachen. Das wäre auch bitter nötig gewesen: Während in einer Eurobarometer-Erhebung vom vergangenen Oktober im Durchschnitt aller damaligen 25 Mitgliedsländer 46 Prozent der Befragten angaben, dass die EU bei ihnen ein positives Bild hervorruft, waren es in Deutschland vier Prozentpunkte weniger.

Das dürfte sich heute, zur Halbzeit des deutschen EU-Vorsitzes, wenigstens etwas geändert haben. Sicher nicht wegen des zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge veranstalteten Volksfestes, das zwar zu Recht die europäische Erfolgsgeschichte feierte, eine kritische Bilanz aber ebenso ausblendete wie wirklich konstruktive Zukunftspläne. Und ebenso wenig wegen der „Berliner Erklärung“, um die wochenlang ein Geheimnis gemacht wurde und die sich wie eine willkürliche, unkonkrete Aneinanderreihung jener Werte und Ziele liest, die in einem halben Jahrhundert EU einmal diskutiert, aber nur in wenigen, wenngleich wichtigen Bereichen – dazu gehört zweifelsohne als zentraler Punkt der Beitrag der Gemeinschaft zum Frieden in Westeuropa – auch verwirklicht wurden. Nein, Angela Merkel hat es geschafft, die begrenzten bisherigen Erfolge der Ratspräsidentschaft publicityträchtig zu vermarkten.

Klima, Energie, Verfassung

Dazu gehörte vor allem der „Klimagipfel“ Anfang März in Brüssel. Natürlich ist oder wäre es ein Fortschritt, wenn die EU bis 2020 die Treibhausgasemission um mindestens 20 Prozent (im Vergleich zu 1990) reduzierte und den Anteil erneuerbarer Energien mit dann ebenfalls 20 Prozent verdreifachte. „Wir haben die Tür aufgestoßen zu einer vollkommen neuen Dimension der Kooperation in der Klimapolitik“, feierte die Kanzlerin das Ergebnis des Europäischen Rats. Kein Wort darüber, dass seit Jahren von Umweltverbänden und Experten gefordert wird, das Thema endlich auf die Agenda zu setzen, kein Wort darüber, dass der stattfindende Klimawandel viel radikalere Zielsetzungen erfordert.

Die EU ist international (beispielsweise im Vergleich zu den USA) zwar „Vorreiter“, aber auch sie schleicht den Erfordernissen gefährlich hinterher. Geschickt überspielt wurde mit dem organisierten Jubel über den „Klimagipfel“ auch die Tatsache, dass sich Berlin sogar als „Klimakiller“ erwies. Schon fast traditionell fungieren Bundeskanzler oder -kanzlerin als Interessenvertreter der Wirtschaft – insbesondere für die in Deutschland starke Automobilindustrie. Nur wenige Wochen vor dem Brüsseler Treffen war in einer konzertierten Aktion von Bundesregierung, respektive Ratspräsidentschaft, und dem einflussreichen deutschen Industriekommissar und Vizechef der EU-Kommission, Günther Verheugen, der Brüsseler Vorstoß für strengere Kfz-Abgasnormen zurückgeschlagen worden.

Verschwiegen wird auch, dass die Beschlüsse zum Klimaschutz bei näherem Hinsehen nur die Hälfte wert sind. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace errechnete, dass angesichts der EU-Erweiterung und der durch den Zusammenbruch der dortigen Schwerindustrie „geschenkten“ Kohlendioxideinsparungen (etwa 15 Prozent weniger Emissionen) die Gesamtreduzierung der EU-27 gerade einmal fünf Prozent ausmacht.

Eine Verpflichtung der CO2-Absenkung um 30 Prozent ist laut Greenpeace der Minimalwert. Dies erscheint auch mit Blick auf die Kyoto-Ziele von 1997 plausibel. In Erweiterung des 1997 in der japanischen Stadt beschlossenen Protokolls hatten sich die europäischen Staaten verpflichtet, den Ausstoß von Treibhausgasen von 2008 bis 2012 um rund acht Prozent gegenüber 1990 zu senken. Ob dieses Ziel erreicht werden kann, ist heute fraglicher denn je – so ist der Ausstoß von klimaschädlichen Gasen 2003/2004 in den 15 Ländern der „Alt-EU“ nicht gesunken, sondern sogar um 0,3 Prozent gestiegen.

Gespanntes Verhältnis zu Russland

Eng mit der Klimafrage verbunden ist die Energiepolitik – ein weiterer Schwerpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft. Schon seit Jahren heißt das Schlagwort dazu Versorgungssicherheit. Daher sollen die Beziehungen zu Lieferantenländern, insbesondere zu Russland, und Transitstaaten intensiviert werden, um eine verlässliche Versorgung der EU-Mitglieder mit bezahlbarem Gas und Öl zu garantieren.

Auf dem Papier klingt dies noch unproblematisch. Allerdings zeigte sich beim letzten EU-Russland-Gipfel im vergangenen November in Helsinki, dass gerade die Spannungen zwischen „Neu-Europäer“ Polen und Moskau ernster sind als angenommen. Das fortgesetzte Veto Warschaus blockiert jedoch die Aufnahme von Verhandlungen über ein erneuertes Partnerschaftsabkommen EU-Russland, das zudem weit über die Energiepolitik hinaus von strategischer Bedeutung wäre.

Inzwischen droht das Verhältnis zu Russland noch deutlicher auf die Negativ-Seite der Ratsbilanz zu rücken. Grund dafür ist der US-amerikanische Raketenschild, der in Polen und Tschechien errichtet werden soll. Schon die eher zaghafte Kritik Berlins an dem Vorhaben hätte zu denken geben müssen. Auf seiner USA-Reise Mitte März stellte Bundesaußenaußenminister Frank-Walter Steinmeier dann sogar klar, dass er die Pläne für „legitim“ hält.

Auch der Versuch der Bundeskanzlerin, die Verantwortung für das Raketenprojekt der NATO zuzuschieben und so die Gemüter in Moskau zu beruhigen, dürfte nicht aufgehen. Denn bereits seit Jahren erfolgt eine immer engere Verzahnung zwischen NATO und EU, die im Kreml nicht unbemerkt blieb. Auf diese Tatsache hatte Russlands Präsident Wladimir Putin im Januar in seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz in sehr deutschen Worten verwiesen. Dass Angela Merkel via „BILD“ jetzt noch die Forderung nach einer EU-Armee erhob, ohne die Rolle der nationalen Armeen und der NATO zu problematisieren, dürfte das Verhältnis weiter komplizieren.

Keine Abstriche an „Substanz“ der Verfassung

Zum wichtigsten erklärten Ziel der deutschen Präsidentschaft, der Perspektive des Verfassungsvertrages, ist die Bilanz noch fragwürdiger. In der „Berliner Erklärung“ heißt es etwas verklausuliert, die Gemeinschaft solle bis zu den Europawahlen 2009 auf eine „erneuerte gemeinsame Grundlage“ gestellt werden. Ob diese Grundlage dann Verfassung oder EU-Vertrag heißt, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass Bundeskanzlerin Merkel nicht müde wird zu betonen, dass es ihr um den Erhalt der „Substanz“ des vorliegenden Verfassungsvertrags geht.

Worin diese Substanz besteht, machte die Ratspräsidentin eher beiläufig während des Berliner Jubiläumsgipfels klar: eine „handlungsfähige“ Union mit einem liberalisierten Markt. Mit anderen Worten: EU-Europa soll strikt auf neoliberalem Kurs bleiben. Die inzwischen von anderen führenden EU-Politikern diskutierten Fragen, dem Vertrag und der Integration eine sozialere und ökologischere Dimension zu geben, sind von deutscher Seite dagegen nicht konkret aufgegriffen worden.

Aus dieser Sicht ist es nur konsequent, dass sich eine Debatte mit der Bevölkerung über strategische Orientierung, Ziele und Konsequenzen der EU und ihres „Grundgesetzes“ nicht auf der Aufgabenliste der deutschen Ratspräsidentschaft findet. Stattdessen sollen bis Ende Juni ein Fahrplan vorlegt und die Verhandlungen nichtöffentlich geführt werden. Unabhängig davon, wie das Kind genannt werden wird, es geht wesentlich darum, welche Rechte die Bürgerinnen und Bürger endlich in einer Union erhalten (oder nicht erhalten), der bereits viele klassische Souveränitätsrechte von den Staaten übertragen worden sind. Die Bevölkerungen daher nicht intensiv in die Diskussion einzubeziehen, widerspricht eindeutig dem notwendigen Charakter dieser Neuverhandlungen.

Schon seit Monaten kursieren dafür die unterschiedlichsten Vorstellungen. Die Vorschläge reichen von der kompletten Novellierung des Textes oder einzelner Kapitel über abgestufte Verbindlichkeiten der einzelnen Teile des Dokumentes bis hin zur einer faktischen „Verfassung der zwei Geschwindigkeiten“. Auch wenn dies gerade in Teilen der Linken nicht selten bezweifelt wird, muss Europa jedoch den für heutige und künftige Aufgaben untauglichen Nizza-Vertrag ad acta legen und die Gemeinschaft auf eine neue vertragliche Grundlage stellen.

Dabei gibt es aus meiner Sicht allerdings drei Prämissen: Die Ausarbeitung muss demokratisch, transparent und mit tatsächlicher Einbeziehung der Bürger erfolgen; ein EU-Vertrag muss sich konsequent am Ziel einer Sozialunion, eines demokratischen und friedlichen Europas orientieren, das Konflikte möglichst präventiv und sie mit zivilen Mitteln löst; drittens schließlich muss ein europäischer „Grundlagenvertrag“ neben den nationalen Entscheidungsverfahren europaweit zur Abstimmung gestellt werden.

Dass Berlin in den verbleibenden drei Monaten die Weichen in diese Richtung stellt, ist weder politisch noch „technisch“ zu erwarten. Die Diskussion um die politische, wirtschaftliche und soziale Zukunft der EU findet hinter verschlossenen Türen statt. Damit ist vorprogrammiert, dass nationale Interessen und das Gefeilsche um die Machtbalance im Rat den Vorrang vor dem Wunsch einer gemeinwohlorientierten Europäischen Union haben werden. Die Präsidenten Polens und der Tschechischen Republik haben das bereits deutlich gemacht. Für die zweite Hälfte der deutschen Ratspräsidentschaft und darüber hinaus ist das kein gutes Omen.“

André Brie, MdEP (Die Linke.PDS), ist Koordinator/Obmann der Vereinten Europäischen Linken im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten, gemeinsame Sicherheit, Verteidigung und Menschenrechte des Europäischen Parlaments.

Quelle:
www.polixea.de