Untaugliche Zauberworte

Artikel von Gabi Zimmer in der Reihe „Brüsseler Spitzen“ in Neues Deutschland vom 28.09.2007

»Flexicurity« heißt das neue Zauberwort in der EU. Gemeint ist die Balance zwischen Flexibilität im Arbeitsrecht und einem gewissen Maß an sozialer Sicherheit für Beschäftigte. Offensichtlich glaubt die EU-Kommission, mit Rezepten aus der Harry-Potter-Welt das ramponierte Ansehen der Union bei den Menschen auffrischen zu können. Im Dezember will der Europäische Rat darüber beschließen.

Eine Balance der Flexibilität von Arbeitsrecht und notwendigen Mindeststandards an sozialer Sicherheit, die nicht einseitig zu Lasten der Beschäftigten und Arbeitslosen geht, bedarf anderer Prämissen. Sie würde die Einsicht voraussetzen, dass soziale Mindeststandards und eine europäische Mindestlohnpolitik Ausgangspunkt für jedwede weitere Diskussion sein müssen. Flexicurity nach Vorstellung der EU-Kommission befördert aber Armuts- und Niedriglöhne und die Ausweitung prekärer Beschäftigung.

Die Ausarbeitung einer europäischen Mindestlohnpolitik findet nicht statt. Dabei könnte sie ein konkretes Projekt für ein soziales Europa sein. Jedes Land wurschtelt stattdessen weiter vor sich hin. Nirgendwo verblasst das Bild von der EU so sehr wie in der Frage gemeinsamer Mindestlohnstandards. Dabei zeigen die Erfahrungen in wirtschaftlich starken EU-Staaten, dass Mindestlöhne keineswegs das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen, allenfalls die Gewinneinnahmen. In Großbritannien wurde der gesetzliche Mindestlohn 1999 eingeführt. 2006 lag er bei umgerechnet 1361 Euro im Monat. In den Niederlanden wurden 1301 Euro und in Frankreich 1254 Euro gezahlt.

Deutschland hat neben Österreich, Schweden, Dänemark, Zypern, Italien und Finnland keinen gesetzlich festgelegten Mindestlohn. Im EU-weiten Vergleich weist Deutschland den geringsten Anteil aller Beschäftigten auf, die durch Mindestlohn- oder Tariflohnvereinbarungen geschützt sind. Mehr als 2,5 Millionen Vollzeitbeschäftigte beziehen Armutslöhne, also weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Bruttolohns.
Mindestlöhne können eine umverteilende Funktion haben, aber auch Mittel zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung sein. Gemeinsame Kriterien für eine europäische Mindestlohnpolitik sollten sich an dem einfachen Umstand orientieren, dass Menschen von ihrer Arbeit in Würde leben können. Das ist nicht selbstverständlich. Die Mindeststundenlöhne schwanken von 0,53 Euro in einigen neuen Mitgliedsländern bis zu 8 oder 9 Euro in den Benelux-Staaten, in Großbritannien oder Frankreich. Mindestlöhne sollten zunächst 50 Prozent des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens in jedem Land betragen, sich aber schrittweise immer mehr der 60-Prozent-Grenze nähern, die die EU als Armutsgefährdungsgrenze definiert hat.

Die Ausrede, dass es sich bei solchen gemeinsam zu vereinbarenden Kriterien um eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips handle, ist nicht glaubwürdig. Seit Jahren wird diese vom Europäischen Amt für Statistik festgesetzte Höhe in der Debatte zwischen den EU-Mitgliedern angewandt. Keinen Mitgliedsstaat hat das bisher offiziell gestört. Das Subsidiaritätsprinzip und die Offene Methode der Koordinierung werden immer wieder bemüht, um EU-weite Mindeststandards abzulehnen. Es entspricht dieser Logik, dass die in Nizza erarbeitete Grundrechtecharta nun im Gezänk um einen Reformvertrag öffentlich zu Grabe getragen wird. Da hilft auch das Zauberwort »Flexicurity« nicht weiter.