Grundlegende Überprüfung und Änderung der internationalen Afghanistan-Strategie notwendig

Der Abgeordnete André Brie forderte nach seinem Besuch in Afghanistan mehr ziviles anstatt militärisches Engagement.

André Brie, Afghanistan-Berichterstatter des Europäischen Parlaments, besuchte vom 2. bis 8. Dezember Afghanistan. Er traf unter anderem mit dem afghanischen Außenminister, der stellvertretenden Frauenministerin, dem Präsidenten des Parlaments, Abgeordneten, Vertreterinnen und Vertretern von internationalen Geldgebern und UN-Organisationen, dem Chef der Europäischen Polizeimission EUPOL und unabhängigen afghanischen Journalisten zusammen. Brie besuchte neben Kabul, die Städte Kunduz, Iman Sahib und Taloqan, den afghanischen Grenzort Sher Khan Bandar sowie das Dorf Bassos.

Nach seiner Rückkehr stellt Brie fest:

Afghanistan ist nach Meinung vieler afghanischer Politikerinnen und Politiker sowie von Vertretern internationaler Organisationen sechs Jahre nach der Intervention der USA und ihrer Verbündeten von einer Post-Conflict Situation wieder in eine In-Conflict Situation zurückgefallen. Die Sicherheit hat sich in praktisch allen Landesteilen in den vergangenen zwei Jahren deutlich verschlechtert. Obwohl in einigen Provinzen des Nordens der Anbau von Schlafmohn eingestellt wurde, hat insgesamt der Drogenbau und -handel weiter zugenommen, deformiert die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und ist eine zentrale Quelle der Unsicherheit sowie der umfassenden Kriminalität und Korruption. In sie sind auch die meisten staatlichen Institutionen intensiv einbezogen; die Verwaltung auf allen ebenen zudem schwach. Auch sechs Jahre nach dem Sturz der Taliban sind die afghanische Armee und vor allem die Polizei nicht in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen, die Polizei im Gegenteil in vielen Fällen selbst Ausgangspunkt von Kriminalität und Korruption.

Für die internationale Öffentlichkeit und Politik ist es nach meiner Überzeugung jedoch auch dringend erforderlich, existierende positive Änderungen in Afghanistan zur Kenntnis zu nehmen, darunter die immer noch bestehende Zustimmung einer großen Bevölkerungsmehrheit für den politischen Wandel, insbesondere bedeutende Erfolge im Gesundheits- und Bildungsbereich, bei der Beteiligung von Frauen am gesellschaftlichen Leben in vielen Städten und in der Entwicklung von Infrastruktur und privaten Investitionen. Auch wenn diese Bilanz widerspruchsvoll und vor allem in den südlichen, östlichen und südwestlichen Provinzen gefährlich defizitär ist, gehören diese Ergebnisse ebenso zur heutigen Realität Afghanistans wie die sich verschlechternde Sicherheitslage.

Es ist höchste Zeit, die internationale Afghanistan-Strategie einer grundlegenden Revision zu unterziehen und ihr endlich die komplizierte, komplexe und gegensätzliche Realität des Landes, seiner Gesellschaft und politischen Situation ungeschminkt zu Grunde zu legen. Das ist bisher nicht geschehen.

Aus meiner Sicht sind insbesondere erforderlich:
– die afghanische Beteiligung an allen Entscheidungen zu gewährleisten und prinzipiell zu stärken,
– die Anstrengungen zum Aufbau einer effektiven, handlungsfähigen und loyalen afghanischen Polizei massiv zu erhöhen,
– die internationale Hilfe für den Wiederaufbau und die Entwicklung Afghanistans, für die Stärkung von Menschenrechten und die Durchsetzung von Recht, für soziale und kulturelle Entwicklung deutlich zu erhöhen,
– diese Hilfe vor allem außerhalb Kabuls zu verstärken, darunter nicht zuletzt in den pashtunischen Siedlungsgebieten,
– die Koordinierung der internationalen Hilfe und der Zusammenarbeit der afghanische Ministerien und anderen Behörden grundlegend zu verbessern, die Dominanz von Interessen der großen Gebernationen oder einzelner afghanischer Ministerien zu überwinden,
– die allgegenwärtige Korruption und den Drogenhandel, vor allem durch die Verfolgung Verantwortlicher in den Spitzen der afghanischen Verwaltung, die bessere Polizeiausbildung und reale -bezahlung sowie durch die Stärkung der Rechtsstrukturen, wirkungsvoll zu bekämpfen.

Die nach wie vor dominierende Orientierung der internationalen, insbesondere der US-amerikanischen Politik auf militärische Mittel und den „Krieg gegen den Terror“ wird die Probleme des Landes nicht lösen, sondern weiter verschlechtern. Die entsprechende Entwicklung in der Provinz Helmand seit ihrer Übernahme durch die britischen Truppen (Verdoppelung des Drogenanbaus, dramatische Verschlechterung der Sicherheit) ist dafür exemplarisch.