EU scheitert an den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts!
Verpaßte Chance: Reformvertrag bringt keinen neuen Schub für Identifizierung von Bürgerinnen und Bürgern mit der EU
Politikschacherei bestimmte bis zum letzten Moment die Verhandlungen um die neuen Grundlagen, auf die nun die Europäische Union gestellt werden soll. Hier ein zusätzlicher Abgeordnetensitz für einen Mitgliedsstaat , da mehr ein Einfluss für ein Land im Ministerrat. Die Grundrechtecharta wird für rechtsverbindlich erklärt. Gleichzeitig bestehen einzelne Staaten auf der Unwirksamkeit der Charta für ihre Bürger und Bürgerinnen.
Die Union stand vor der Aufgabe, sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen und sich für Zukünftige zu rüsten, die Union der Regierungen durch eine Union der Bürgerinnen und Bürger zu erweitern, die Wirtschafts- und Währungsunion durch eine Sozialunion sowie eine demokratische und politische Union zu ergänzen. Diesen Ansprüchen werden die zwischen den Regierenden vereinbarten Änderungen zu bestehenden Verträgen der EU keineswegs gerecht. Neuregelungen wie die Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments, vor allem die erhebliche Ausweitung der Mitentscheidungsrechte des EP und die Übertragung des Haushaltesrechtes an das Europäische Parlament sind zu begrüßen ebenso wie die erweiterten Mitspracherechte der nationalen Parlamente. Dieses Mehr an Demokratie reicht allerdings nicht aus, um das Projekt der EU der Regierungen und Konzerne zu einem Projekt der Bürgerinnen und Bürger der EU zu machen. Es wird nicht geeignet sein, um künftig mehr Menschen als bisher zu den Wahlurnen zu holen!
Auch die Auswirkungen der veränderten Entscheidungs- und Stimmverfahren im Rat sind zu analysieren, ob sie in der praktischen Umsetzung die „Handlungsfähigkeit der EU“ tatsächlich verbessern und damit das Ansehen der EU in den Augen ihrer Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen.
Manche der im Reformvertrag enthaltenen Vereinbarungen stehen den Interessen der Mehrheit der in der EU lebenden Menschen direkt entgegen, machen die Union zu einem geschlossenen Projekt , „closed shop“, und widersprechen ihrer gewachsenen Verantwortung als globaler Akteur.
Die genauen Textanalysen des nunmehr beschlossenen Reformvertrags und die Debatte unter linken und alternativen Kräften sind noch voll im Gange. Das heute in Deutschland beginnende Sozialforum in Cottbus bietet eine ausgezeichnete Möglichkeit, um sich auszutauschen und sich zu verständigen.
Die vorgesehene Kampagne zur Durchführung von Referenden zum EU-Vertrag in allen Mitgliedsstaaten werden wir nutzen müssen, um die mit diesem Vertrag vorhandenen Spielräume für Veränderungen der EU hin zu einer demokratischen, friedlichen, sozialen und ökologischen Union auszuloten und gleichzeitig unsere Kritik an der jetzigen Union öffentlich zu thematisieren.
Wenn die Linke ihre Position bestimmt, sollte sie die mangelnde Zukunftsoffenheit des EU-Vertrags, die fehlende soziale und ökologische Untermauerung der EU, seine militärische Ausrichtung und den vorgesehenen Umgang mit den Migrationsströmen durch die EU im Blick haben.
1. Wir haben den Verfassungstext, der in Frankreich und in den Niederlanden in Volksabstimmungen zurückgewiesen wurde, aus inhaltlichen Gründen abgelehnt. Nicht, weil wir prinzipiell gegen einen Verfassungsprozess oder gegen eine Verfassung wären. Im Gegenteil, dafür haben wir uns seit 1998 ausgesprochen. Unser Nein entsprang einer Abwägung zwischen durchaus zu unterstützenden Vorhaben wie der rechtlichen Verankerung der Grundrechtecharta, der Ausweitung der Rechte des Europäischen Parlaments und für Linke andererseits nicht zu akzeptierenden Verfassungsgeboten, die eine neoliberale, der freien Marktwirtschaft verpflichtete Wirtschaftsform und den militärischen Charakter der EU festschreiben.
2. Die beschlossenen Änderungen zu den EU-Verträgen beinhalten die Substanz des Verfassungsentwurfs. Nach ersten Textvergleichen bleiben auch die von uns kritisierten inhaltlichen Positionen und Grundausrichtungen, die der Europäischen Union mit dem beschlossenen Reformwerk auferlegt werden, im Kern erhalten. So kamen die Regierungschefs bei ihren Gipfeltreffen im Juni und jetzt in Lissabon nicht umhin, die soziale Marktwirtschaft in den neuen Vertragstext aufzunehmen. Das ist ein Erfolg des Widerstands gegen die neoliberale Ausrichtung des Verfassungsentwurfs! Allerdings entwerten sie diese Einsicht selbst wieder, indem im neuen Vertrag über die Arbeitsweise der Union der alte Artikel 98 mit seiner Forderung für eine offene Marktwirtschaft erhalten bleibt. Damit bleibt der Grundsatz der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ das vertraglich festgeschriebene Grundprinzip der EU.
3. Die Verfassung sollte einen „Doppelcharakter „der EU festschreiben: Nicht nur eine EU der Mitgliedsstaaten, sondern auch und insbesondere der Bürger und Bürgerinnen. Diese Ausrichtung auf die Ausprägung einer politischen Identität als EU-Bürger/innen wurde aufgegeben. Damit verbinden wir auch unsere Kritik am Umgang mit der Grundrechtecharta. Sie ist insgesamt gesehen ein Fortschritt für die Bürger und Bürgerinnen der EU. Durch die Erklärung zum opt-out gilt sie für die Bürger/innen in Großbritannien und Polen nicht. Sie wird damit politisch marginalisiert.
4. Die Regierungschefs legen nunmehr nach ihrer Einigung in Lissabon sich selbst für den 13. Dezember 2007 einen Text zur Unterschrift vor, der hinter den verschlossenen Türen einer Regierungskonferenz erarbeitet wurde. Dieser Text ist technokratisch, juristisch verklausuliert und kaum lesbar. Welch ein Rückschritt zu den Konventen, in denen Abgeordnete nationaler Parlamente und des Europaparlaments an der Erarbeitung der Grundrechtecharta und des Verfassungstextes mitwirkten und die Zivilgesellschaft gehört wurde! Dass die Bürgerinnen und Bürger Frankreichs und der Niederlande den Verfassungsvertrag in Volksabstimmungen ablehnten, wird nun zum Anlass genommen, auf Referenden zu verzichten. Wenn die Bürger und Bürgerinnen herrschende Politik nicht legitimieren wollen, sollen sie nicht entscheiden dürfen!
5. Das von uns immer wieder kritisierte Rüstungsgebot bleibt im neuen Vertrag erhalten. Die Europäische Verteidigungsagentur, die vom Europaparlament nicht kontrolliert werden kann, hat ihre Arbeit fast unbemerkt aufgenommen. Die Voraussetzungen für einen gemeinsamen EU-Binnenmarkt für Rüstungsproduktion wurden bereits geschaffen und werden mit diesem Text legitimiert. Die Artikel zur „Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ sind klar militärisch gewichtet!