Erste Einschätzung des Abstimmungsergebnisses zur Dienstleistungsrichtlinie im Europäischen Parlament am 16. Februar 2006

Das Abstimmungsergebnis bewegt sich in allen wesentlichen Punkten auf der Linie des Abstimmungsergebnisses im Binnenmarktausschuss vom November 2005, modifiziert durch die Festlegungen des so genannten Kompromisses, den Sozialdemokraten und Konservative in den letzten Tagen ausgehandelt haben.

Anders als in der Mediendarstellung vermittelt, bedeutet dieser „Kompromis“ allerdings keineswegs eine grundlegende Veränderung der neoliberalen Stoßrichtung der Richtlinie. Im Gegenteil: Die Einigung zwischen den beiden großen Fraktionen im Europäischen Parlament ist im wesentlichen dadurch möglich geworden, dass die Sozialdemokraten auf die Linie der Konservativen eingeschwenkt sind. Das betrifft sowohl die Frage des Anwendungsbereichs der Richtlinie, in der die sozialdemokratische Fraktion zuvor einen Ausschluss aller Dienste der Daseinsvorsorge vertreten hatte, als auch die Frage des Herkunftlandsprinzips, das die Sozialdemokraten ursprünglich abgelehnt und statt dessen eine Regelung nach den Gesetzen des Landes der Dienstleistungserbringung – also das Prinzip des Bestimmungslandes – gefordert hatten. Beide Positionen finden sich im heute durchgesetzten „Kompromis“ nicht mehr.

Die Regelungen zum Herkunftsland betreffen Artikel 16 der Richtlinie, auf den sich von Beginn an die Auseinandersetzung konzentrierte. Im Binnenmarktausschuss war zu diesem Punkt ein Antrag von Konservativen und Liberalen angenommen worden, der vollinhaltlich den Forderungen der Europäischen Kommision entsprach. Nach ihm sollten Dienstleistungserbringer künftig “ausschließlich den Bestimmungen des Mitgliedsstaats der Niederlassung” unterliegen, also den Gesetzen ihres Herkunftslandes, und zwar „in Bezug auf den Zugang zu Dienstleistungstätigkeiten und deren Ausübung“. Die einzige ernsthafte Einschränkung, die vorgenommen wurde, betrifft das Recht zur Kontrolle der Dienstleistungstätigkeit, das dem Bestimmungsland übertragen wurde. Allerdings ist fraglich, ob dieses eine ernsthafte Kontrolle unter solchen Bedingungen noch ausüben kann. Denn im Grunde bedeutet diese Konstruktion, das ein Mitgliedsland dafür verantwortlich ist, die Einhaltung der Gesetze anderer Mitgliedstaaten, also im Extremfall 24 verschiedener Rechtsordnungen, für die auf seinem Territorium tätigen Unternehmen zu überprüfen.

Der Begriff des Herkunftslandes als solcher allerdings tauchte bereits in der vom Binnenmarktausschuss verabschiedeten Version der Richtlinie nicht mehr auf. Die Überschrift von Artikel 16, die ursprünglich „Herkunftslandprinzip“ lautete, wurde in „Freizügigkeit für Dienstleistungen“ umgeändert. Das ist auch im jetzt abgestimmten Kompromiss zu Artikel 16 der Fall.

Auch inhaltlich bringt der neue Text keine gegenteiligen Festlegungen. Zwar wird jetzt nicht mehr pauschal festgelegt, dass grenzüberschreitende Unternehmen nur noch den Gesetzen des Landes unterliegen, in dem sie niedergelassen sind. Umgekehrt wird aber auch auf jede Festlegung verzichtet, dass die Gesetze des Tätigkeitslandes gelten sollten. Stattdessen wird schwammig formuliert, dass die Mitgliedstaaten „den freien Zugang und die freie Ausübung von Dienstleistungstätigkeiten auf ihrem Territorium sicherstellen“ sollen. Die entscheidende Frage ist damit: Was heißt „freie Ausübung“?

Die Interpretation, dass damit die Ausübung auf Basis der Gesetze des Herkunftslandes gemeint ist, wird durch die Folgebestimmungen nahe gelegt. So wird im anschließenden Absatz klar gestellt, dass die Mitgliedstaaten den Zugang oder die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit auf ihrem Territorium keinen Gesetzen unterwerfen dürfen, die die Prinzipien der Nicht-Diskriminierung, der Notwendigkeit und der Proportionalität verletzten. Hinsichtlich der „Notwendigkeit“ wird ausgeführt, dass die Regelungen gerechtfertigt sein müssen „aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder öffentlichen Sicherheit oder mit Blick auf den Schutz von Gesundheit und Umwelt“. Alle Gesetze, die sich nicht zwingend mit Blick auf öffentliche Sicherheit, Gesundheit oder Umwelt rechtfertigen lassen, gelten für den ausländischen Dienstleistungserbringer also nicht, sondern da unterliegt er den Gesetzen des Landes, in dem er niedergelassen ist.

Es folgt dann noch eine ganze Liste von gesetzlichen Anforderungen, die die Mitgliedstaaten in jedem Fall abschaffen müssen: Dazu zählt erstens die Auflage, dass Dienstleistungserbringer auf ihrem Territorium eine Niederlassung errichten müssen, wenn sie ihre Dienste anbieten wollen. Ebenso untersagt wird den Mitgliedstaaten jede Einmischung in die Vertragsgestaltung der Dienstleistungserbringer, was nicht nur Verbraucherschutzrechte elementar in Frage stellt, sondern auch alle Gesetze zur Bekämpfung von Scheinselbständigkeit obsolet machen kann. Der Dienstleistungserbringer soll auch nicht mehr verpflichtet werden dürfen, einen Identitätsnachweis von Seiten seiner zuständigen Behörden beizubringen. Schließlich soll es in Zukunft keinerlei gesetzliche Auflagen mehr geben dürfen, die Ausrüstungsgegenstände oder verwendete Materialien betreffen – eingeschränkt lediglich durch eine Klausel betreffend Gesundheits- und Arbeitsschutz. In Absatz 3 wird dann noch einmal wiederholt, dass die Mitgliedstaaten die Tätigkeit ausländischer Dienstleistungsanbieter insoweit eigenen Gesetzen unterwerfen dürfen, als diese „aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit, des Umweltschutzes und der Volksgesundheit“ als notwendig erachtet werden.

In der ursprünglichen Fassung des Kompromisses waren in dieser Aufzählung wenigstens noch Sozialpolitik und Verbraucherschutz mitgenannt. In letzter Minute schwenkten die Sozialdemokraten aber auch hier auf die konservativen Forderung ein, so dass jetzt selbst sozialpolitische oder Verbraucherschutzbestimmungen nicht mehr als Rechtfertigungsgrund für staatliche Anforderungen an die ausländischen Dienstleistungserbringer hinreichend sind.

Es ist klar, dass die Einschränkungen, die Absatz 3 formuliert, überhaupt nur dann Sinn machen, wenn generell eben nicht die Gesetze des Landes der Dienstleistungserbringung, sondern die des Herkunftslandes gelten. Genau in diesem Sinn einer Einschränkung des Herkunftslandprinzips war diese Passage bereits in dem Antrag der Konservativen enthalten, der vom Binnenmarktausschuss beschlossen wurde. Dass der Kompromisstext unverändert auf das Herkunftslandprinzip setzt, bestätigte im Übrigen auch der konservative österreichische Abgeordnete Othmar Karas, der selbst Mitglied des Verhandlungsteams war. Gegenüber der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ betont er, dass zwar „der Begriff Herkunftslandprinzip nicht mehr verwendet wird, aber das Grundprinzip bleibt“ (Standard 9.2.06) Ähnlich äußerte sich auch der konservative Verhandlungsführer Malcolm Harbour in der Parlamentsdebatte.

Am Ende enthält der Kompromissentwurf zu Artikel 16 dann noch die Festlegung, dass die Kommission spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten der Richtlinie in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern einen Bericht über die Anwendung dieses Artikels 16 vorlegen soll, in dem sie zugleich die Möglichkeit von Harmonisierungen im Bereich des Dienstleistungsmarktes „erwägen“ möge. Von der ursprünglichen Forderung nach Harmonisierung der Standards auf hohem Niveau ist damit nicht mehr geblieben als eine völlig unverbindliche Absichtserklärung für die ferne Zukunft.

Was das Abstimmungsergebnis zu Artikel 16 also vom bisherigen Richtlinienentwurf unterscheidet, ist weniger der konkrete Inhalt als die Schwammigkeit und Ausdeutbarkeit der Formulierungen. Die Konzernlobby sollte damit bestens leben können, da in letzter Instanz der Europäische Gerichtshof angerufen werden kann, um beispielsweise klar zu stellen, was an Regelungen im Sinne von Umwelt, Gesundheit und öffentlicher Sicherheit tatsächlich als gerechtfertigt anzusehen ist beziehungsweise welche Gesetze die „freie Ausübung“ von Dienstleistungstätigkeiten in unzulässiger Weise beschränken. Der Text bietet alle Möglichkeiten zu einer absolut restriktiven Interpretation; man kann sich daher darauf einstellen, dass nach Inkrafttreten der Richtlinie in der gegenwärtigen Version zahllose nationale Gesetze vom EuGH für unzulässig erklärt werden und eine neue Deregulierungsrunde bisher nicht gekannten Ausmaßes eingeleitet wird.

Auch im Hinblick auf den Geltungsbereich der Richtlinie, Artikel 2, haben die Sozialdemokraten ihre einstigen Forderungen aufgegeben. So standen sich hier bei der Abstimmung im Binnenmarktausschuss immerhin noch zwei Anträge gegenüber. Der von den Sozialisten eingebrachte und von uns und den Grünen unterstützte forderte die Ausklammerung sämtlicher Bereiche der Daseinsvorsorge – also aller Dienste von allgemeinem und von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse – aus dem Geltungsbereich der Richtlinie, um wenigstens in diesen Sektoren ein Mindestmaß an öffentlicher Einflussnahme zu erhalten. Dagegen stand der Antrag von Konservativen und Liberalen, der entsprechend dem Original der Kommission die Einbeziehung der Daseinsvorsorge verlangte. Scheinbar abgeschwächt wurde der neoliberale Vorstoß durch einige Bestimmungen, die besagten, dass die Richtlinie nicht die Liberalisierung oder Privatisierung bisher nicht dem Wettbewerb geöffneter Sektoren bewirken solle. Angesichts dessen, dass es aber EU-weit kaum noch einen Sektor gibt, der nicht irgendwo bereits dem Wettbewerb geöffnet ist, ist diese Einschränkung kaum mehr als ein Lippenbekenntnis. Denn auch so elementare Dienste wie Bildung, Wasserversorgung oder Abfallbeseitigung sind mit dem Markteintritt privater Anbieter längst dem Wettbewerb geöffnet und würden mit der Richtlinie flächendeckend dem freien Spiel kapitalistischer Marktkräfte unterworfen. Bei der Abstimmung im Ausschuss fand dieser konservativ-liberale Antrag erwartungsgemäß eine Mehrheit, lediglich der Gesundheitssektor, die audiovisuellen Dienste und der Bereich des Glücksspiels wurden aus dem Geltungsbereich der Richtlinie ausgeklammert.

Im Ergebnis der heutigen Abstimmung wurde die Reihe der Ausnahmen jetzt noch durch einige weitere Bereiche ergänzt. So sollen auch Leiharbeits- und Zeitarbeitsagenturen ausgenommen werden, ferner Transportdienste, Hafendienstleistungen und soziale Dienste. Diese Veränderungen sind wichtig. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass Kernbereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge wie Wasser, Energie, Kultur, Postdienste oder auch Bildung Teil des neoliberalen Projekts bleiben und damit unter noch massiveren Deregulierungs- und Privatisierungsdruck geraten werden als dies bereits heute der Fall ist. Alle Anträge zum generellen Ausschluss von Diensten der Daseinsvorsorge wurden in der Abstimmung – mehrheitlich unter Beteiligung der Sozialdemokraten – niedergestimmt.

Veränderungen am Richtlinientext wurden ferner insbesondere im Hinblick auf Artikel 1 vorgenommen. Demgemäß sind zwar jetzt Arbeitsrecht sowie die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern vollständig aus der Dienstleistungsrichtlinie ausgenommen, womit einer wesentlichen gewerkschaftlichen Forderung Rechnung getragen wurde. Aber im Kontext der unzähligen Regulierungsverbote der Richtlinie wird sich zeigen, wie viel diese Einschränkung tatsächlich wert ist. Für Länder ohne Mindestlohngesetze gibt es ohnehin keine einklagbaren Lohnstandards des Bestimmungslandes, die von den Dienstleistungserbringern beachtet werden müssen. Soweit Mindestlohngesetze existieren, besteht die Gefahr einer Angleichung des Lohnniveaus nach unten an diese Mindeststandards.

Nahezu vollständig abgelehnt wurden in der Abstimmung alle Anträge, die sich auf die in Artikel 14 und 15 festgeschriebenen Regulierungsverbote und „zu prüfenden Anforderungen“ bezogen. So wird es in Zukunft eine Privilegierung von Unternehmen bestimmter Rechtsform – also zum Bespiel von non-profit Unternehmen – in bestimmten Bereichen ebensowenig mehr geben dürfen wie die Festlegung bestimmter Mindestbeschäftigtenzahlen oder die Regulierung von Gewerbezulassungen unter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlichen Bedarfs. Auch Honorarordnungen, etwa von von Rechtanwälten, geraten unter Druck.

Die neoliberale Quintessenz und Stossrichtung der Richtlinie ist daher in der heute abgestimmten Version des Europäischen Parlaments weitgehend erhalten geblieben. Von substantiellen Änderungen kann keine Rede sein.

Überraschend freilich kommt der von den deutschen Sozialdemokraten angeführte Umfall auf ganzer Linie dennoch nicht. Bereits die Festlegungen im Koalitionsvertrag von SPD und CDU waren so gewählt, dass sie unter Umständen sogar eine Bestätigung der Richtlinie in der vom Binnenmarktausschuss verabschiedeten Version zugelassen hätten. Das Herkunftslandprinzip wird lediglich „in der bisherigen Ausgestaltung“ in Frage gestellt, ansonsten aber ein Hohelied auf die herausragende Bedeutung eines „funktionierenden Binnenmarkts“ gesungen. In gleicher Intention vertritt der Dortmunder SPD-Europaabgeordnete Bernhard Rapkay seit Wochen, er sei sich sicher, dass man „eine Einigung“ finde, da „die Differenzen zwischen den Lagern nicht allzu groß“ seien. (FAZ 26.1.06). Schon das von der Kapitallobby gefeierte Ergebnis der Abstimmung im Binnenmarktausschuss bezeichnete Rapkay als „sinnvollen Kompromiss“. Der Vorsitzende der Fraktion der Sozialdemokraten im Europaparlament Martin Schulz erläuterte vor einigen Wochen die sozialdemokratische Verhandlungsstrategie folgendermassen: „Letztlich geht es in den Gesprächen der kommenden Wochen weniger um inhaltliche als um sprachliche Korrekturen. … Mit den Grundzügen der Richtlinie können die Sozialdemokraten leben – zumindest in der Fassung, die der Binnenmarktausschuss im Herbst beschlossen hat.“

Konsequenz der heutigen Abstimmung muss deshalb sein, den Protest gegen die Richtlinie aufrecht zu erhalten und weiter zu erhöhen. Wenn das Europäische Parlament nicht gewillt ist, die Sorgen und Nöte der Menschen ernst zu nehmen, so müssen jetzt die Regierungen der Mitgliedstaaten unter Druck gesetzt werden, damit sie ihre Zustimmung zur Richtlinie im Ministerrat verweigern. Der Kampf ist noch nicht verloren – die Richtlinie kann auch nach der heutigen Abstimmung im Europäischen Parlament gestoppt werden.