Kinderarmut in Europa
Weder Bundesregierung noch Europäische Kommission sahen sich genötigt, am Wochenende einen Vertreter zur Berliner Konferenz über »Kinderarmut in Europa« zu entsenden. Die Ausreden waren fadenscheinig: Angeblich herrschte bei den deutschen Behörden Unklarheit darüber, welches Ressort eigentlich zuständig sei. Und erst am Veranstaltungstag ließ die Brüsseler Vertreterin telefonisch mitteilen, dass sie doch nicht anreisen könne, weil sie kein Flugticket mehr bekommen habe… Wenn der Anlass nicht so ernst gewesen wäre, dann hätte man darüber lächeln
können. Doch bestätigte sich lediglich die Vermutung, dass sich politische Repräsentanten lieber um ein unangenehmes Thema herummogeln, als Rede und Antwort zu stehen. Das Verhalten zeige, »welches Interesse und welcher Gesamtblick dem Problem entgegengebracht wird«, sagte etwa die Sprecherin der Linkspartei.PDS-Delegation im Europäischen Parlament (EP), Gabi Zimmer.
Dass die gemeinsame Konferenz der EP-Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) und der Berliner Rosa-Luxemburg-Stiftung dann doch zu einem Erfolg wurde, lag vor allem daran, dass die Gastgeber sehr genau auf ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Theorie und Praxis geachtet hatten. Neben der wissenschaftlichen Ebene, die u a. Ursula Schröder (FU Berlin), Ronald Lutz (FH Erfurt), Michael Klundt (Uni Köln) und Margherita Zander (FH Münster) vertraten, gab es die Erfahrungsberichte der Praktiker: Nöck Gail (Zirkus Internationale), Sabine Walther (Kinderschutzbund), Rudolf Martens (Paritätischer Wohlfahrtsverband), Kai-Uwe Lindloff (Die Arche, Berlin), Jan Becker und Ragnar Fritz (Gangway Berlin).
Der Paritätische Wohlfahrtsverband geht übrigens davon aus, dass es derzeit in Deutschland rund 1,7 Millionen Kinder gibt, die auf Sozialhilfeniveau leben müssen. Laut einer UNICEF-Studie ist die Kinderarmut in Deutschland mit 2,7 Prozentpunkten seit 1990 stärker gestiegen als in den meisten anderen Industrienationen. Damit sei jedes vierte Kind im Land betroffen, sagte Martens. Mit der Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe würden den Bedarfsgemeinschaften jährlich rund vier Millionen Euro entzogen. Dies wäre exakt der Betrag, der gemäß den Ankündigungen im schwarz-roten Koalitionsvertrag aus dem Bereich SGB II herausgekürzt werden soll. Die Einkommenskluft im Lande werde ebenso wachsen wie die Armut.
Koen Vleminckx vom belgischen Ministerium für Soziales, der eher ungewollt die EU-Ebene vertreten musste, versuchte die Befürchtungen, die Politik setze eine neoliberalen Ausrichtung europaweit durch, zu zerstreuen. Ursprünglich habe man die Kinder als soziale Investitionen angesehen, gab er zu, was »ein Schuss in die falsche Richtung« gewesen sei. Er bestritt allerdings heftig, dass später »neoliberale Gedankengänge« eine Rolle gespielt hätten.
Obwohl sich die Veranstalter einige Konferenzteilnehmer mehr gewünscht hätten, wollen sie darüber nachdenken, wie sie die Diskussion um Ursachen, Wirkungen und Lösungsmodelle fortführen können. Fortgesetzt werden soll die Debatte auf jeden Fall, so Gabi Zimmer.
Quelle:
Neues Deutschland