Verteidigung, Ausbau und Erneuerung der öffentlichen Daseinsvorsorge

aus La Gauche 2: „Für ein soziales Europa“, Beitrag von Helmuth Markov & Nora Schüttpelz

Daseinsvorsorge beinhaltet im Sinne des Sozialstaatsgedankens die Schaffung, Sicherung und Entwicklung notwendiger sozialer Lebensbedingungen durch Maßnahmen und Regelungen der öffentlichen Hand. Dazu gehören u. a. Gesundheits-, Renten-, Arbeitslosen- oder Arbeitsunfallversicherungssysteme, die universale Bereitstellung von Post- und Telekommunikationsdiensten Elektrizitäts-, Gas-, Wasser- und Abwasserversorgung, Müllabfuhr, Verkehrs- und Beförderungswesen, sozialem Wohnungsbau, Bildungs- und Ausbildungssystemen, Kinderbetreuungs- und Kultureinrichtungen, Krankenhäusern, Friedhöfen.

Der EG-Vertrag kennt den Begriff «öffentliche Daseinsvorsorge» nicht, vielmehr ist von «Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse»die Rede. Darunter definiert die EU-Kommission sowohl bestimmte Leistungen der großen netzgebundenen Wirtschaftszweige als auch jedesonstige wirtschaftliche Tätigkeit, die mit Gemeinwohlverpflichtungen verbunden ist. Der Grundsatzartikel 16 EGV betont den Stellenwert dieser Dienste innerhalb der gemeinsamen Werte der Union und ihre besondere Bedeutung für das Ziel des sozialen und territorialen Zusammenhalts. So es für die Erfüllung der besonderen Aufgaben öffentlicher oder durch die öffentliche Hand beauftragter Unternehmen notwendig ist, können Ausnahmen von den EU-Wettbewerbsregeln gemacht werden. Es gibt spezielle Bestimmungen, die z. B. staatliche Beihilfen, Quersubventionierung innerhalb öffentlicher Unternehmen und Ausgleichzahlungen bei besonderen Anforderungen erlauben bzw. die Ausschreibungspflicht bei öffentlichen Aufträgen begrenzen. Bislang liegt die genaue Festlegung des Dienstleistungsangebots und die Erbringung von Dienstleistungen mitgemeinwohlorientiertem Charakter in der Kompetenz der Mitgliedstaaten bzw. den Kommunen. An ihnen ist es, schlüssig zu begründen, dass eine Dienstleistung bestimmten gemeinwohlorientierten Zielen dient und diese Ziele nicht auf der Grundlage von Marktmechanismen erreicht werden können.

Mit Beginn der 1990er Jahren verstärkte sich in den Mitgliedstaaten und den Institutionen der EU, eine politische Denk- und Politikrichtung, die das Verständnis öffentlicher Daseinsvorsorge überall in Europa grundlegend veränderte und schließlich die Rolle des Staates in Frage stellt. Die Rede ist von Deregulierung, Liberalisierung, Privatisierung kurz: Überführung eines zunehmenden Anteils öffentlicher Aufgaben in den Markt. Dabei ist nicht einmal umstritten, dass die Sicherstellung der Erbringung von Dienstleitungen der Daseinsvorsorge von strategischer Bedeutung für jede Gesellschaft ist: Mit dem Motto «Die Renten sind sicher» wurde eine Bundestagswahl gewonnen. Das Thema Energiesicherheit beschäftigt zurzeit hochrangige Gipfeltreffen. In der Zeitrechnung «nach PISA» haben Heerscharen von Politikern und Experten die Bildung wiederentdeckt. Dass der Zugang zu sauberem Trinkwasser zentraler Konfliktpunkt mitunter gewalttätiger Verteilungskämpfe ist, ist nicht nur Entwicklungspolitikern bekannt. Die Verlagerung von mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene wird nicht nur im Sinne des Umweltschutzes eingefordert. Der Ruf nach Investitionen in Infrastruktur und neue Technologien steht auf jeder politischen Agenda.

Die grundlegende politische Auseinandersetzung findet um die Frage statt, wie das Ziel, «jedem und jeder den Zugang zu hochwertigen Dienstleistungen zu erschwinglichen Prisen zu gewährleisten», erreicht werden kann. Die Position, dass soziale Sicherheit, wie sie die Bevölkerung zu Recht erwartet, nicht mittels betriebswirtschaftlicher Organisationsmuster herstellbar ist, da betriebswirtschaftliches Denken schlicht anderen Zielvorgaben folgt, hat im Spiel der politischen Machtverhältnisse einen immer schwereren Stand. Liberalisierungs- und Privatisierungsbefürworter – gegenwärtig die politische Mehrheit in Europa – behaupten, marktgesteuerte Dienstleistungserbringung habe positive Effekte für alle gesellschaftlichen Bereiche: Betriebswirtschaftliches Gewinnstreben und Konkurrenz erhöhe Effizienz und Qualität von Leistungen und lasse Verbraucherpreise sinken. Privatisierung ehemals staatlicher Dienste entlaste öffentliche Haushalte, steigere langfristig Investitionen in Infrastrukturen und gewährleiste mehr Transparenz als öffentliche Verwaltung.

Neoliberale Mehrheiten haben sich bereits bei den EU-Richtlinien über Telekommunikation, Post, Bahn und Energieversorgung durchgesetzt. Auch Wasserwirtschaft, Gesundheitsdienste und der ÖPNV werden als binnenmarktwirtschaftlichregelbar angesehen und sind in einigen Mitgliedstaaten bereits liberalisiert. In den WTO- und GATS-Verhandlungen, in denen die Kommission als «Stimme der EU» für alle Mitgliedstaaten gemeinsam spricht, drängt sie ebenfalls auf weitgehende Liberalisierungsschritte innerhalb des multilateralen Handelsabkommens. Grundgedanke ist, dass alle Dienstleistungen, für die ein Entgelt erhoben wird, Marktregeln folgen müssen. Das betrifft besonderes jene sozialen Dienstleistungen, die privatwirtschaftlich oder in Form öffentlich-privater Partnerschaften erbracht werden. In Deutschland sind dies Pflegedienste, Weiterbildung, Arbeitsvermittlung und vieles mehr.

Betrachtet man, inwiefern die auf EU oder auf nationaler Ebene erfolgten Liberalisierungs- und Privatisierungsschritte die Versprechungen ihrer Befürworter erfüllen, zeigt sich insgesamt ein deutlich negatives Bild: Statttatsächlicher Wettbewerbschancen für eine größere Zahl von Anbietern haben sich Oligopole privater Großunternehmen bzw. ehemaliger staatlicher Monopolisten herausgebildet. Private, zum Teil international auftretende Unternehmen kaufen vermehrt Anteile kommunaler Versorger auf und stärken damit ihre Marktposition zusätzlich. Mit dem Ziel der Profitmaximierung betreiben sie dabei Rosinenpickerei, kaufen ausschließlich profitable Unternehmensteile, deren Gewinne dann der öffentlichen Hand nicht mehr zur Unterstützung nicht rentabler Bereiche der Daseinsvorsorge zur Verfügung stehen. Privatisierungen gingen oftmals mit massivem Arbeitsplatzabbau, Ausweitung von Arbeitszeiten, Zunahme von Überstunden, Lohneinbußen, mit Outsourcing und Häufung von Zeitverträgen einher. Beobachten lässt sich schließlich eine räumlich-soziale Polarisierung: Für untere Einkommensgruppen, aber auch Bevölkerungsteile in ländlichen Regionen ist der Zugang zu und die Qualität von öffentlichen Dienstleistungen eben nicht immer gewährleistet. Preissenkungen, die es zwar z. B. im Energiebereich anfangs gegeben hat – für industrielle Abnehmer in weit größerem Ausmaß als für private Haushalte –, weichen mittlerweile wieder massiv steigenden Preisen.

Diese Entwicklungen zeigen, wie notwendig der Kampf um den Schutz und die Stärkung öffentlicher Daseinsvorsorge bleibt. Statt weiterer sektorieller Liberalisierungsrichtlinien wäre auf europäischer Ebene eine diesbezügliche Rahmengesetzgebung sinnvoll. Sie müsste eine breite Definition von Dienstendes Gemeinwohlinteresses bieten und bestimmen, dass solche Dienste ausdrücklich nicht globalen und EU-Marktregeln unterworfen werden. Festzulegen sind dabei Ziele und allgemeine Gestaltungsgrundsätze im Sinne der sozial gerechten und demokratischen Teilhabe. Für die Linke in Europa gilt es, eine gesellschaftliche akzeptierte Konzeption für ein solches Projekt zu entwickeln und Mehrheiten für diesen Schritt in Richtung eines sozialeren Europa zu mobilisieren.

* Helmuth Markov ist Europaabgeordneter der Linkspartei.PDS; Nora Schüttpelz ist Politikwissenschaftlerin und Mitarbeiterin des MdEP Markov.

Quelle:
http://www.pds-europa.de/download/print/lagauche_02.pdf