Wohin mit Europa?
Interview mit Sylvia-Yvonne Kaufmann (Linkspartei.PDS) in Info Links, Zeitung des Bezirksverbandes Lichtenberg der Linkspartei.PDS)
Ist Europa in der Krise?
Ja. Die einstige Zustimmung zur europäischen Idee ist inzwischen dramatisch zurückgegangen, und dafür ist die Politik der EU verantwortlich. Immer mehr wird diese von blanken neoliberalen Privatisierungs- und Wettbewerbskonzepten sowie von der sozial- und umweltpolitischen Deregulierung dominiert. Und immer weniger spielen eine aktive Beschäftigungspolitik oder das Streben nach einheitlich hohen sozialen und ökologischen Standards eine Rolle. So fallen EU-Politik und die Interessen der Bevölkerung immer weiter auseinander, und das ergibt eine massive Vertrauenskrise.
Stichwort „Bolkestein“
Genau. Mit der „Bolkestein-Richtlinie“ müssten nahezu alle kommunalen Dienstleistungen europaweit ausgeschrieben werden. Das hauptsächliche Vergabekriterium für die Kommunen soll das preiswerteste Angebot sein. Dabei sollen aber nicht die sozialen, ökologischen und technisch-technologischen Maßgaben der Ausschreibungsländer, sondern ausschließlich die der Herkunftsländer gelten. In der Realität wird so angesichts der niedrigen Regelungen in den neuen Beitrittsländern die hiesige örtliche Wirtschaft nur noch ganz wenige Chancen haben. Damit ist auch hierzulande das Ende von Flächentarifen und Tariflohn, von bisherigen sozialen, ökologischen und technischen Standards absehbar. Das ist nicht hinzunehmen.
Die neuen Mitgliedsländer forcieren ja geradezu die Annahme von Bolkestein. Wie ist das in der linken Fraktion?
In unserer Fraktion ist nur die KP Böhmens und Mährens vertreten, und die kämpft in Tschechien selbst um nachhaltige soziale Verbesserungen. Sie ist konsequent dagegen, eigene Probleme auf Kosten anderer zu klären. Während es also im Europäischen Parlament durchaus einen Ost-West-Gegensatz – die uneingeschränkte Zustimmung zu Bolkestein kommt vor allem aus Osteuropa, und die Kritik vor allem aus den westeuropäischen Mitgliedsländern – gibt, sind wir uns in unserer Fraktion völlig einig.
Was ist noch gegen Bolkestein möglich?
Mitte Februar wird im Parlament die erste Lesung sein. Die Kommission hat – wegen der kontroversen Debatten und stets ganz knappen Abstimmungen in den Ausschüssen und auch im Ministerrat – danach einen überarbeiteten Entwurf angekündigt. Insofern ist gerade jetzt die Chance, deutlich Protest zu zeigen, die Unterschriftensammlung zu intensivieren und große Aktionen, wie am 14. Februar in Straßburg und anderen Zentren, durchzuführen. Für uns geht es darum, dass diese Richtlinie weg muss, aber wir unterstützen auch alles, um wenigstens das Herkunftslandprinzip zu tilgen.
Wie geht es mit der Verfassung weiter?
Die Europäische Union braucht einen neuen Vertrag, meine Position dazu ist ja bekannt. Doch wenn es wie in Frankreich und den Niederlanden so eindeutige Gegenvoten der Bevölkerung gibt, muss die Politik entsprechend handeln. Dringend ist ein Politikwechsel hin zu einem sozialen Europa, nur so werden sich die Menschen wieder mehr mit dem europäischen Projekt identifizieren. Notwendig ist zudem, mit den Bürgerinnen und Bürgern endlich einen gezielten Dialog über die Zukunftsperspektiven Europas zu führen. Das Europaparlament engagiert sich für EU-weite Debatten zu den Problemen, die die Menschen in den Mitgliedstaaten am meisten bewegen. Dies könnte helfen, den Verfassungsprozess wiederzubeleben. Denn vergessen wir nicht: in Politik und Wirtschaft gibt es starke Kräfte, die sehr gut mit dem verfassungslosen Zustand leben können bzw. die auf ein Zurück zum Nationalstaat setzen.
Welche Schwerpunkte hat die linke Fraktion für die nächste Zeit gesetzt?
Wir haben es unablässig mit Angriffen auf soziale Leistungen unter dem Vorwand des fairen Wettbewerbs zu tun. Es wird also immer darum gehen, dass wir als Anwalt gegen neoliberalen Sozialabbau wirken.
Du bist die Ansprechpartnerin der Gruppe der Linkspartei.PDS im Europäischen Parlament für den Landesverband Berlin.
Ja, und da gibt es auch viele Kontakte. Dennoch würde ich mich freuen, wenn mich noch mehr Basisorganisationen einladen würden. Viele wissen es schon: Wenn meine Verpflichtungen – auch die als Vizepräsidentin – es nur irgendwie zulassen, komme ich sehr gern in die Basis.
Interview: Peter-Rudolf Zotl (Aus der Zeitung „Info links“. Hrsg. vom Bezirksverband Lichtenberg (Berlin) der Linkspartei.PDS, Ausgabe 1 / 2006)
Quelle:
http://www.pds-lichtenberg.de/pdf/IL1.pdf