Sechs Jahre Lissabon-Strategie – eine Bilanz
Auf dem Treffen des Europäischen Rats am 23. und 24. März 2006 steht auch die Überprüfung der Lissabon-Strategie auf der Tagesordnung.
Auf dem Treffen des Europäischen Rats am 23. und 24. März 2006 steht auch die Überprüfung der Lissabon-Strategie auf der Tagesordnung. In den sechs Jahren ihres Bestehens sind die mit diesem Programm verbundenen Erwartungen nicht erfüllt worden. Statt dessen wurden Märkte „liberalisiert“ und ein massiver Angriff auf staatliche Vorsorge- und Sozialsysteme gestartet.
I. Die Lissabon-Strategie (2000)
Auf dem Lissabonner Gipfel im März 2000 haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union eine Strategie angenommen, die darauf abzielt, „Dynamik und Wettbewerbsfähigkeit in Europa bei gleichzeitiger Förderung der sozialen Integration auf nachhaltige Weise zu steigern“. Es wurde das Ziel gesetzt, bis 2010 ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 3 % zu erreichen und 20 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen. Eingefordert wurden weit reichende Reformen auf europäischer und nationaler Ebene in Bereichen wie makroökonomische Politik, Unternehmen, Forschung und Entwicklung, Marktöffnung und Umwelt. Ergänzend zu den Beschlüssen wurde auf dem Gipfeltreffen von Göteborg 2001 ein Paket von Umweltzielen vereinbart.
Zur Umsetzung der Lissabon-Strategie wurde ein zweigleisiges Vorgehen beschlossen. Einerseits werden Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene realisiert, die auf abgestimmten Vorgaben von EU-Kommission, Europäischem Parlament und Ministerrat basieren. Andererseits wurden die Mitgliedstaaten verpflichtet, auf nationaler Ebene Schritte zu unternehmen, die den vereinbarten und vom Rat bestätigten Leitlinien entsprechen.
II. Die erneuerte Strategie (2005)
Bei der Halbzeitüberprüfung der Lissabon-Strategie im Jahr 2005 mussten auch die EU-Gremien konstatieren, dass die gestellten Ziele nicht erreicht wurden. So sind bis 2004 nach offiziellen Angaben zwar sechs Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden, aber erstens hat die soziale Qualität von Beschäftigung in der EU zu Gunsten von prekärer Beschäftigung, Teilzeitarbeit und gering entlohnter Arbeit weiter abgenommen, zweitens blieb die wirtschaftliche Leistung weit hinter dem Ziel des anvisierten durchschnittlichen Wirtschaftswachstums von 3 % zurück, drittens sind die Ziele in der Forschungs-, Innovations- und vor allem der Bildungspolitik nicht erreicht worden.
Als Konsequenz wurde die Anzahl der Ziele reduziert und die Strategie auf die Förderung von Beschäftigung und Wachstum konzentriert. Daneben wurde eine engere Kooperation zwischen EU-Kommission und Mitgliedstaaten gefordert. Als Hauptziele wurden eine Beschäftigungsquote von 70 % („Vollbeschäftigung“) sowie ein Anteil von Investitionen für Forschung und Entwicklung in Höhe von 3 % des Bruttoinlandsproduktes genannt.
III. Sozialpolitische Implikationen
Offiziell betont die Lissabonner Strategie die Verbindung von Wachstum und Beschäftigung mit dem sozialen Zusammenhalt.
Die in dem Programm geforderten und gegenwärtig in der gesamten EU umgesetzten „Sozialreformen“ zielen jedoch darauf ab, den Sozialstaat nach dem Prinzip der „individuellen Eigenverantwortung“ umzugestalten. Das heißt beispielsweise in der Alterssicherung die Beschränkung der öffentlichen Rentensysteme auf eine nicht lebensstandardsichernde (auch nicht armutsfeste) Basissicherung, Orientierung auf betriebliche Pensionsfonds und private Vorsorge. Im Gesundheitswesen wird auf die Versorgung lediglich mit „medizinisch notwendigen“ Pflichtleistungen sowie erhöhte Zuzahlungen orientiert. Die Arbeitsmarktpolitik wird in Richtung Reduzierung staatlicher Unterstützungsleistungen sowie Verschärfung der Bedingungen für deren Bezug umgestaltet. Insgesamt ist bei den „Reformen“ im Sozialbereich keine Modernisierung und Umstellung auf dauerhaft tragfähige Systeme erkennbar, sondern der europaweite Rückzug des Staates aus der kollektiven Fürsorge
IV. Die Bilanz
Auch nach sechs Jahren Lissabon-Strategie fallen die Ergebnisse ernüchternd aus. So ist die Beschäftigungsquote von 62,4 % (2000) bis 63,3 % (2004) nahezu unverändert geblieben. In Deutschland sank sie von 65,6 % (2000) auf 65,0 % (2004). Auch die so genannte Armutsgefährdungsquote (Anteil von Personen mit einem verfügbaren Einkommen unter 60 % des nationalen Durchschnitts) blieb mit 16 % in den Referenzjahren 2000 und 2004 unverändert hoch. In der Bundesrepublik ist sie sogar von 10 auf 16 % gewachsen. Ähnlich sieht es bei Langzeitarbeitslosen aus: Hier betrug die Quote im Jahr 2000 3,9 %, 2004 lag sie bei 4,1 %. In Deutschland stieg der Wert von 3,7 auf 5,4 % (alle Angaben: Eurostat)
Hauptproblem der Strategie von Lissabon ist der Zuschnitt auf den „Fetisch Wachstum“, der weder die Realitäten noch die Notwendigkeiten berücksichtigt.
Erstens ist Wachstum kein Selbstzweck. Es macht nur Sinn, wenn es sich auch in die Erfüllung sozialer Aufgaben und vor allem die Stärkung der Beschäftigung umsetzen lässt.
Zweitens existiert Wachstum nicht im luftleeren Raum. Es muss insbesondere ökologische Aspekte einschließen. Wachstum auf Kosten der Umwelt ist alles andere als eine Zukunftsinvestition.
Drittens schließlich darf die Entwicklung in Europa nicht auf Kosten anderer Staaten und Regionen vorangetrieben werden. Die globalisierungskritische Organisation Attac kritisiert zu Recht, dass unter den derzeitigen Umständen Wirtschaftswachstum vor allem durch Handelsbilanzüberschüsse erreicht wird. Dies führt dazu, dass insbesondere die Situation unterentwickelter und verschuldeter Staaten zementiert wird.
Viertens: Es fehlt in der gesamten EU, und besonders ausgeprägt in Deutschland, an einer Binnenmarktorientierung, die gestärkte Binnennachfrage, Massenkaufkraft und soziale Sicherheit erfordert. Sie wäre mit entsprechender ökologischer und sozialer Qualität auch sowohl die eigentliche Wachstumsressource und eine konstruktive Antwort auf berechtigten Forderungen der Länder des Südens und Ostens.