Pflüger: Weißbuch-Entwurf friedensgefährdend
Entmilitarisierung oder Militarisierung? Kabinett verabschiedete neues Weißbuch der Bundeswehr
(ngo) Das Bundeskabinett hat am Mittwoch ein neues „Weißbuch“ für die Bundeswehr beschlossen, mit dem die Aufgaben für die deutsche Armee definiert werden sollen. Das „Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr 2006“ legt laut Bundesverteidigungsministerium „die sicherheitspolitische Grundlinie Deutschlands“ fest. Die Bewertung des Weißbuchs geht weit auseinander. Während SPD-Verteidigungspolitiker von einer „Entmilitarisierung der Sicherheitspolitik“, prangert die Friedensbewegung eine massive Militarisierung an. Die Bundeswehr solle beispielsweise mit den „kampfstärksten Rohrwaffensystemen der Welt“ ausgerüstet. Es sei künftig alles möglich: Rohstoff-Kriege in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten oder auch der große Krieg gegen China.
Die Arbeitsgruppe Sicherheitsfragen der SPD-Bundestagsfraktion begrüßte das Weißbuch ausdrücklich. Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Arnold, und der zuständige Berichterstatter, Hans-Peter Bartels, kommentierten das Weißbuch auf bemerkenswerte Weise: „Mit der Festschreibung eines erweiterten Sicherheitsbegriffs trägt es ein für alle Mal zur Entmilitarisierung der Sicherheitspolitik bei.“
Pflüger: Dieser Entwurf ist friedensgefährdend
Der Europaabgeordnete Tobias Pflüger (Linke) kommt bei der Analyse des gleichen Weißbuchs zu einem diametral gegenteiligen Ergebnis: „Das Weißbuch spiegelt in erschreckender Weise den Grad der Militarisierung Deutschlands wieder. Es zeigt, wie weit die ‚Enttabuisierung des Militärischen‘ (Gerhard Schröder) inzwischen fortgeschritten ist.“ In aller Deutlichkeit werde klar, dass sich die Bundeswehr konsequent von einer auf Territorialverteidigung ausgerichteten Truppe hin zu einer Interventionsarmee entwickelt habe: Im Weißbuch heiße es dazu: „Die Bundeswehr beschreitet seit Jahren konsequent den Weg des Wandels zu einer Armee im Einsatz“.
Auffällig sei, wie offen das Weißbuch erkläre, die Bundeswehr habe militärisch für die Absicherung der Rohstoffversorgung zu sorgen: Deutschland sei „in hohem Maße von einer gesicherten Rohstoffzufuhr und sicheren Transportwegen in globalem Maßstab abhängig. (…) Von strategischer Bedeutung für die Zukunft Deutschlands und Europas ist eine sichere, nachhaltige und wettbewerbsfähige Energieversorgung. (…) Energiefragen werden künftig für die globale Sicherheit eine immer wichtigere Rolle spielen.“ Aus diesem Grund „muss die Sicherheit der Energieinfrastruktur gewährleistet werden“, heiße es weiterhin im neuen Weißbuch. Die Beteiligung an NATO und EU-Militäreinsätzen „mit und ohne UN-Mandat“ – so Pflüger – sei dabei Mittel zum Zweck.
„Dieser Entwurf ist friedensgefährdend“, meint Pflüger. „Er ist voll und ganz abzulehnen. Die Umsetzung des Weißbuches muss verhindert werden.“
Arnold/Bartels: Fortsetzung des begonnenen Transformationsprozesses der Bundeswehr
Die SPD-Abgeordneten Arnold und Bartels betonen, dass in dem Weissbuch „der Transformationsprozess der Bundeswehr“, den der frühere Bundesverteidigungsminister Peter Struck mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien im Jahr 2003 begonnen hat, fortgesetzt werde. „Es ist ein eindrucksvolles Dokument für die Kontinuität in der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung.“
Das Weissbuch sei eine umfassende Analyse der „derzeitigen und künftigen Herausforderungen“ in der Aussen- und Sicherheitspolitik. „Wir begrüßen sehr die dort enthaltenen Vorschläge zur Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und besonders zur Weiterentwicklung „der NATO als politisches Dialogforum“.
Die Vorschläge des Bundesverteidigungsministeriums über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren deckten sich mit den Forderungen der SPD, die Streitkräfte nur in dem engen Bereich der Luft- und Seesicherheit einzusetzen, wenn dies die Mittel der Polizei nicht erlaubten. „Einer Klarstellung im Grundgesetz stimmen wir zu, wenn sie über den Artikel 35 Grundgesetz erfolgt“, kündigten die SPD-Abgeordneten an. „Hier sehen wir, wie die Bundesregierung, die Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens.“
Henken/Strutynski: Wegweisendes Dokument der militärischen Orientierung der Bundesregierung
Für die Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Lühr Henken und Peter Strutynski handelt es sich bei dem Weißbuch der großen Koalition um „ein wegweisendes Dokument ihrer militärischen Orientierung“. „Wir bemängeln das Fehlen einer umfassenden öffentlichen Debatte“, so Henken und Strutynski. Die Debatte innerhalb der Koalition und in einigen Medien habe sich fast ausschließlich auf den Bundeswehreinsatz im Innern konzentriert und werde „der außenpolitischen Tragweite dieses Dokuments“ in keiner Weise gerecht. „Wir plädieren entschieden dafür, das Weißbuch zurückzuziehen, um eine breite und ernsthafte gesellschaftliche Debatte über die geplante intensive und extensive Ausweitung deutscher Militäreinsätze im multilateralen Rahmen zu ermöglichen. Das Weißbuch legt zukünftige Entwicklungen fest, ohne auch nur ansatzweise die durch den Militärinterventionismus verursachten Verbrechen und kostspieligen Misserfolge in Betracht zu ziehen.“
Zentraler Inhalt des Weißbuchs sei die Umrüstung der Bundeswehr zur weltweiten Kriegführungsfähigkeit. Die Bundeswehr solle technologisch über die Schaffung einer „Vernetzten Operationsführung“ mit den USA verkoppelt werden. Grundlage hierfür bilde das NATO-System „Alliance Ground Surveillance (AGS)“. Mittels Unbemannter Flugkörper und einer Computerisierung der Kriegsführung – „à la Irakkrieg“ – solle der Bundeswehr der Schulterschluss mit der US-Militärtechnologie innerhalb der NATO ermöglicht werden. Ziel sei die Beschleunigung der Entscheidungsfindung, um auf dem Gefechtsfeld den entscheidenden Vorteil zu erlangen. „Frei nach dem trügerischen Motto: Die technologische Überlegenheit garantiert den Sieg. Das Desaster dieses Konzepts lässt sich täglich im Irak und in Afghanistan studieren. Krieg ist selbst Terror und erzeugt neuen Terror“, meinen die Sprecher des Friedensratschlags.
„Die militarisierte EU“ solle über das Berlin-Plus-Abkommen auch auf diese Technologie zugreifen können. Im Vordergrund stünde für die große Koalition jedoch „eindeutig die NATO“. Wegweisend für die Globalstrategie der große Koalition sei das Bestreben, eine „strategische Partnerschaft von NATO und EU“ zu etablieren.
Völkerrechtsbruch des NATO-Krieges gegen Jugoslawien 1999 – Verletzung der UN-Charta durch den US-geführten Irakkrieg 2003
„Der Völkerrechtsbruch des NATO-Krieges gegen Jugoslawien 1999 wird ebenso wenig thematisiert wie die flagrante Verletzung der UN-Charta durch den US-geführten Irakkrieg 2003“, kritisieren Henken und Strutynski. Stattdessen werde die Aussage der Europäischen Sicherheitsstrategie hervorgehoben, dass „die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen“ müsse und Sicherheitsvorsorge am wirksamsten durch „präventives Handeln“ gewährleistet werde, wobei „das gesamte sicherheitspolitische Instrumentarium“ einbezogen werden müsse.
In dieser Art von „Prävention“ sei Waffengewalt ausdrücklich eingeschlossen. Folglich setze sich das Weißbuch dafür ein, „das strikte Gewaltverbot der UN-Charta auszuhebeln, indem es einer angeblichen allgemeinen Schutzverantwortung (‚responsibility to protect‘) das Wort redet“. „Wir warnen eindringlich davor, dem Militärinterventionismus die Legitimation dadurch erteilen zu wollen, dass man das in der UN-Charta festgeschriebene Gewaltverbot aushöhlen will. Dies öffnet der Kriegführung – mit welchen echten oder vorgeschobenen Gründen auch immer – Tür und Tor“, so Henken und Strutynski.
Die Bundeswehr solle bis 2010 mit sogenannten Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräften, denen jeweils Einheiten aus Heer, Luftwaffe und Marine angehören, „eine komplett neue Struktur bekommen“. Die 35.000 Soldaten der „Eingreifkräfte“ unterlägen der „Vernetzten Operationsführung“ und würden den Schnellen Eingreiftruppen der NATO (NRF) und denen der EU – „inklusive ihrer Speerspitze, den Battlegroups“ – zur Verfügung gestellt. „Sie sind für den Kriegseinsatz vorgesehen“, so Henken und Strutynski.
Von See aus das Landesinnere beschießen & das kampfstärkste Rohrwaffensystem der Welt
Mit Marschflugkörpern auf neuartigen Korvetten, die Bestandteil der „Eingreifkräfte“ seien, erhalte die Bundeswehr „erstmalig in ihrer Geschichte“ die Möglichkeit, auch von See aus das Landesinnere zu beschießen. Die „Eingreifkräfte“ erhielten die kampfstärksten Hubschrauber und mit der Panzerhaubitze 2000 auch das kampfstärkste Rohrwaffensystem der Welt. „Mit neuen strategischen Transportflugzeugen sollen Kampfhelikopter, Schützenpanzer und Infanterie schnell in weit entfernte Kampfzonen geflogen werden können. Die Luftwaffe erhält Marschflugkörper, um aus sicherer Distanz Feindesland zerstören zu können. Neben drei verschiedenen Typen von unbemannten Flugkörpern zur Aufklärung und Nachrichtengewinnung erhält die Bundeswehr ein weltumspannendes radargestütztes Satellitenspionagesystem. Und ihre weltweit kampfstärksten konventionellen U-Boote U-212 sind von Nicht-Nato-Staaten nicht ausfindig zu machen.“
Das Weißbuch zähle „zunehmend komplexe Herausforderungen“ und Bedrohungen auf. Genannt würden der internationale Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihren Trägermitteln sowie die Gefahr „unkontrollierter Migration“, organisierter Kriminalität, Drogen- und illegalen Waffenhandels als Folge innerstaatlicher oder regionaler Konflikte. Ausdrücklich solle auch – „wenn geboten“ – durch „bewaffnete Einsätze“ gegen „Risiken und Bedrohungen“ vorgegangen werden.
„Dazu stellen wir fest“, so Henken und Strutynski, „dass der ‚Krieg gegen den Terror‘ selbst Terror ist, massenweise Unschuldige tötet und sich als kontraproduktiv erweist, – dass der US-geführte Krieg gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu Recht als Vorwand verstanden wird, um energie- und rohstoffreiche Regionen unter Kontrolle zu bringen und sich geostrategische Positionen zu sichern, – dass Sinn und nachhaltiger Erfolg militärischen Eingreifens in regionale und innerstaatliche Konflikte nicht erwiesen ist – eher ist das Gegenteil der Fall.“
Die Interessen Deutschlands
Im Weißbuch werde „auffallend häufig“ von Interessen gesprochen: Da Deutschlands Wohlstand, vom „Zugang zu Rohstoffen“ abhänge, habe es ein „elementares Interesse“ an einem „offenen Welthandelssystem und freien Transportwegen“. Man befürchte die „Störung von Rohstoff- und Warenströmen beispielsweise durch zunehmende Piraterie“.
Dass die Bundeswehr zur „Sicherung der Rohstoffzugänge“ eingesetzt werden solle, wolle die Kanzlerin, denn so stehe es im Leitantrag ihres CDU-Bundesvorstands für den Parteitag im November. Zugangssicherung schließe den Zugang zu Lagerstätten von Erdöl, Gas und Mineralien in fremden Ländern ein und beschränke sich nicht auf Seewegsicherung. „Wir sagen, es ist nichts gegen ein Interesse an Rohstoffen anderer Länder einzuwenden, sehr wohl jedoch dagegen, sich diese gewaltsam aneignen zu wollen“, so Henken und Strutynski. „Wir bewerten das Vorhaben, die Piraterie auch militärisch bekämpfen zu wollen, als an den Haaren herbeigezogen. Erstens haben wir es nicht mit einer ‚zunehmenden Piraterie‘ zu tun, sondern mit einer Halbierung der Überfälle seit 2003 und zweitens lässt sich ein wirksamer Schutz durch passiven Schutz und nicht-letale Abwehrmaßnahmen wirksamer erreichen. Den Kampf gegen die Piraterie als Begründung dafür herzunehmen, eine NATO-Armada von 350 hochseegängigen Überwasserkampfschiffen aufrechtzuerhalten, ist absurd und kostspielig dazu.“
Ebenso fehle eine Begründung dafür, dass die NATO noch über 3,9 Millionen Soldaten unter Waffen habe, 24.000 Kampfpanzer bereit halte und über 7.000 Kampfflugzeuge und 160 U-Boote verfüge. Henken und Strutynski kritisieren, dass die Bundesregierung von einer Ausnahme abgesehen „nichts zur konventionellen Abrüstung beitragen“ wolle. Im Weißbuch werde lediglich die atomare weltweite Abrüstung gefordert. „Dieser an sich begrüßenswerte Vorsatz bleibt jedoch so lange unglaubwürdig, wie die Bundesregierung an der völkerrechtswidrigen ’nuklearen Teilhabe‘ festhält und sich nicht für den Abzug von US-Atomwaffen von deutschem Boden einsetzt.“
Das Weißbuch macht nach Auffassung von Henken und Strutynski alles möglich – „im ‚multilateralen Rahmen‘ versteht sich: Der Rohstoffkrieg in Afrika, der Krieg um Öl und Gas am Golf und in Zentralasien, die Beteiligung am Großkrieg gegen China oder Nordkorea, die Überwachung von Wasserstraßen, der Kampf gegen Piraten, die Besetzungen fremder Länder usw. Der militärischen Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.“
Quelle:
ngo-online