EU-Dienstleistungsrichtlinie: Marktradikalismus pur

Zur heutigen Debatte über die Dienstleistungsrichtlinie im Europäischen Parlament erklärt der Europaabgeordnete der Linkspartei.PDS André Brie

Kaum ein geplantes EU-Gesetz hat in Europa zu einer so breiten Diskussion geführt wie die Dienstleistungsrichtlinie. Die globalisierungskritische Bewegung Attac und Gewerkschaften, linke Parteien und Sozialverbände, zahlreiche andere Organisationen und Wissenschaftler warnen seit Monaten vor der „Liberalisierung“ und Privatisierung des Dienstsleistungssektors in Europa. Am Donnerstag entscheidet das Plenum des Europaparlaments über diesen wohl folgenschwersten europäischen Rechtsakt.

Nach den bisherigen Erfahrungen ist nichts Gutes zu erwarten. Bereits im vergangenen November hatte die Richtlinie den federführenden Binnenmarkt- und Verbraucherschutzausschuss passiert. Ermöglicht wurde dies nicht zuletzt durch die europäischen Sozialdemokraten, die sich der Stimme enthielten oder zustimmten – obwohl sie beispielsweise in Deutschland massive Kritik an dem Dokument übten.

Obwohl der ursprüngliche Entwurf der Richtlinie in zahlreichen Fragen geändert wurde und es durchaus einige positive Einschränkungen des Anwendungsbereiches gab (wozu, nebenbei bemerkt, die Linksfraktion im Europaparlament maßgeblich beigetragen hat), öffnet Bolkestein den europäischen Dienstleistungsmarkt für einen Dumpingwettlauf nach unten: bei Löhnen, Sozialstandards, Verbraucher- und Umweltschutzrecht, Qualität, sicherlich auch beim Haftungsrecht und rechtlicher Sicherheit für Kunden überhaupt. Zwar taucht das öffentlich heftig attackierte Herkunftslandprinzip als Begriff nicht mehr auf. Der entsprechende Artikel 16 wird nun unverfänglicher mit „Freier Dienstleistungsverkehr“ überschrieben. Die Substanz ist aber praktisch die Selbe. Nur zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Volksgesundheit und der Umwelt können die Staaten auf der Einhaltung nationaler Bestimmungen bestehen. Ansonsten gelten die Gesetze jenes Landes, aus dem der Dienstleister kommt. Praktisch bedeutet das: Wer die niedrigsten Lohn-, Sozial- und anderen Standards bietet, könnte im Konkurrenzkampf bald die Nase vorn haben.

Wenn sich Staaten auf Kategorien wie Wettbewerbsfähigkeit verpflichten, die aus der Wirtschaft stammen und eigentlich nur für Unternehmen gelten, zeigt das, wessen Interessen sie vertreten. Die Erklärung der EU-Kommission, mit Bolkestein würden etwa 600.000 Arbeitsplätze geschaffen, wirkt vor diesem Hintergrund eher zynisch. Denn sie ist wenig glaubhaft. Bisherige Liberalisierungen haben zu millionenfachen Entlassungen geführt. Und selbst wenn es so wäre: Die offizielle Arbeitslosenzahl in der EU würde gerade einmal von 18,6 auf 18 Millionen sinken. Und das bei der Öffnung eines Sektors, der bereits heute 70 Prozent der europäischen Wirtschaft ausmacht!

Es gibt derzeit kein strategischeres, kein weitreichenderes Projekt des neoliberalen Marktradikalismus in der EU als die Bolkestein-Richtlinie. Widerstand ist erforderlich – von Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen, Handwerkern, Verbraucherinnen und Verbrauchern, Kommunen. Dass Protest erfolgreich sein kann, beweisen die Aktionen der europäischen Hafenarbeiter: Das Vorhaben der EU-Kommission, die Hafendienstleistungen zu liberalisieren, ist im Januar gescheitert.