EU-Kommission bei Menschenrechts- verletzungen blind
Brüssel lehnt im Fall al-Masri eigene Untersuchungen ab. / Antwort auf parlamentarische Anfrage widerspricht vorangegangenen Aussagen.
In scharfer Form hat der Europaabgeordnete André Brie (Linkspartei) auf eine Stellungnahme der Europäischen Kommission zum Fall des durch US-Spezialkräfte in Mazedonien entführten deutschen Staatsbürgers Khaled al-Masri reagiert. „Für die Kommission ist die Gewährleistung des grundlegenden Menschenrechts auf Unversehrtheit und Schutz vor Misshandlung offensichtlich ein reines Lippenbekenntnis“, erklärte Brie am Mittwoch unter Bezug auf die Antwort der Kommission auf seine parlamentarische Anfrage. Kommissar Olli Rehn hatte eingeräumt, dass sich Brüssel ohne weitere Nachfragen mit den Aussagen der mazedonischen Behörden zu der Verschleppung al-Masris zufrieden gibt (siehe Anlage). Eine Erörterung des Falls in den Gesprächen mit Skopje über einen EU-Beitritt lehnte Rehn praktisch ab.
„Die Antwort des Kommissars ist in mehrfacher Hinsicht ein Skandal“, betonte der Abgeordnete. „Erstens stehen die Aussagen im direkten Widerspruch zur Antwort auf meine vorangegangene Anfrage, ob Brüssel Kenntnis vom Fall al-Masri hat. Im Juli 2005 teilte die Kommission mit, sie habe weder Informationen über die Entführung des Deutschen, noch über die Verschleppung anderer „Terrorverdächtiger“ aus Europa. Nun stellt sich heraus, dass zu dieser Zeit bereits Gespräche mit den mazedonischen Behörden über al-Masri geführt worden waren. Zweitens verletzt die EU-Kommission gröblichst ihre Pflichten als Hüterin der Europäischen Verträge. Achtung und Schutz der Menschenrechte, zu denen
sich die EU auch völkerrechtlich bekennt, sind Grundfesten der europäischen Integration. Drittens ist es mehr als blauäugig, sich bei der Untersuchung des Falls al-Masri mit den Erklärungen aus Skopje zufrieden zu geben. Der Verweis auf ein Abkommen von 1901 (zu dieser Zeit stand Mazedonien unter türkischer Fremdherrschaft!) zur Auslieferung von „Straftätern“ spricht jeglicher Rechtstaatlichkeit Hohn. Aber auch, wenn es sich bei der Jahresangabe um einen Fehler handeln sollte, ist es skandalös, dass die Kommission es offensichtlich akzeptiert, dass Mazedonien ein Auslieferungsabkommen mit den USA hat, dass die Verschleppung eines EU-Bürgers ohne Gerichtsurteil und ohne jeden rechtlichen Beistand für den Betroffenen erlaubt.
Die Praxis, Menschen auf bloßen Verdacht hin zu verschleppen, zu inhaftieren und zu foltern wird offenbar von Brüssel toleriert. Der vom Europaparlament eingesetzte Untersuchungsausschuss muss sich nicht nur mit dem Vorgehen von US-Diensten in Europa befassen, sondern auch mit dem Rechtsverständnis der EU-Kommission und des Beitrittskandidaten Mazedonien, der Verhandlungsstrategie und -praxis der Kommission gegenüber Mazedonien und deren Wegschauen bei Menschenrechtsverletzungen in Beitrittsstaaten. Ich fordere den Untersuchungsausschuss zudem auf, die Widersprüche und offenkundigen Unwahrheiten in den Kommissionsantworten auf meine parlamentarischen Anfragen lückenlos aufzuklären.“
ANLAGE:
E-4505/05DE
Antwort von Herrn Rehn
im Namen der Kommission
(24.1.2006)
Der Vorwurf der Verschleppung von Khaled el-Masri war Thema des politischen Dialogs, den die Kommission mit den Behörden der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien im Rahmen der Vorbereitung ihrer Stellungnahme zu dem von der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien gestellten Beitrittsantrag führte.
Nachdem die Kommission die Behörden der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien um weitere Informationen im Fall el-Masri ersucht hatte, wurde sie von diesen am 30. Juni 2005 darüber informiert, dass el-Masri nach Angaben der Polizei am 30. Dezember 2003 in das Land gekommen ist und es am 23. Januar 2004 wieder verlassen hat. Die Behörden verwiesen darauf, dass die Auslieferung von angeklagten oder verurteilten Personen nur in dem dafür bestimmten rechtlichen Rahmen im Einklang mit dem Strafprozessrecht und die Auslieferung ausländischer Staatsangehöriger nur auf Grundlage eines ratifizierten internationalen Übereinkommens stattfinden darf. Ferner wurde die Kommission von den Behörden davon in Kenntnis gesetzt, dass zwischen ihrem Land und den Vereinigten Staaten auf Grundlage eines Übereinkommens von 1901 ein bilaterales Abkommen über die Auslieferung von Straftätern existiert.
Die Stellungnahme der Kommission zum Beitrittsantrag des Landes enthält eine Bewertung der Situation des Justizwesens und des Schutzes der Grundrechte. Es wird darin jedoch nicht auf diesen individuellen Fall eingegangen, da bislang keine konkreten und bestätigten Informationen vorliegen.
Die Kommission ersuchte die Regierung um weitere Informationen über die vorgeworfene Inhaftierung el-Masris, deren Umstände und die Haftbedingungen sowie über die Umstände, die bei el-Masris Verlassen des Landes eine Rolle spielten.
Die Kommission wird dem Herrn Abgeordneten die erhaltenen Informationen mitteilen.