EU-Arbeitszeitrichtlinie unter Beschuss. Die Vorschläge der Kommission und des Europäischen Parlaments auf dem Prüfstand

Klaus Dräger

Europaweit trommeln die Unternehmerverbände für eine Verlängerung und weitere Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Sie finden willige Helfer in den meisten Regierungen der Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission und im Europäischen Parlament. Zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union sollen bestehende soziale Mindestvorschriften der EU ausgehöhlt werden: Es geht um die EU-Arbeitszeitrichtlinie.

Der Ausschuss für Beschäftigung und soziale Fragen des Europäischen Parlaments hat am 20. April 2005 mit 31 Für-, 14 Gegenstimmen und einer Enthaltung Änderungsanträge zum Vorschlag der Kommission zur Revision der EU-Arbeitszeitrichtlinie beschlossen. Berichterstatter für den Ausschuss ist der spanische Sozialdemokrat Alejandro Cercas. Für den Bericht stimmten Sozialdemokraten (PSE), Grüne (V-ALE) und Teile der Konservativen (PPE-DE) und Liberalen (ALDE). Vertritt die Mehrheit der Europaparlamentarier einen „ausgewogenen Kompromiss“, oder unterstützt sie Kommission und Rat beim Schleifen sozialer Schutzstandards?
Opt-out abschaffen?
Die Europäische Kommission will das Opt-out (siehe Kasten) weiter erhalten. Es soll künftig durch Kollektivverträge genutzt werden können, um Wochenarbeitszeiten von mehr als 48 Stunden zu vereinbaren. In Betrieben ohne bestehende Kollektivvereinbarung oder ohne anerkannte Arbeitnehmervertretung soll mit bestimmten Einschränkungen weiterhin das individuelle Opt-out möglich bleiben. Für viele Kleinunternehmen und „gewerkschaftsfreie“ Betriebe würden die unhaltbaren Zustände wie in Großbritannien also weiter gehen. Die Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen kämen zusätzlich unter Druck. Entweder sie unterzeichnen „Opt-out“-Vereinbarungen, oder sie werden von den Unternehmerverbänden nicht mehr als Vertragspartner anerkannt. Die Kommission liefert den Arbeitgebern einen kräftigen Knüppel, um Arbeitszeitverlängerung durchzuprügeln.
Der Bericht des Beschäftigungsausschusses fordert, das Opt-out 36 Monate nach Inkrafttreten der geänderten Arbeitszeitrichtlinie gänzlich abzuschaffen. Auf Basis des Opt-outs geschlossene Arbeitsverträge sollen danach noch maximal ein Jahr gelten dürfen. Die Linksfraktion unterstützt die Abschaffung des Opt-outs.
Flexibilisierte Jahresarbeitszeit?
Die Europäische Kommission will den Mitgliedstaaten ermöglichen, per Gesetz oder Verordnung den Bezugszeitraum für die Messung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit auf 12 Monate auszudehnen. Bisher ist dies nur durch Kollektivvereinbarungen möglich. Regierungen könnten so an den Gewerkschaften vorbei erheblich größere Spielräume zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten im Unternehmerinteresse schaffen.
Auch der Bericht des Beschäftigungsausschusses will den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumen, durch Gesetze und Verordnungen den Bezugszeitraum auf 12 Monate für jene Bereiche auszuweiten, deren Beschäftigte keiner tarifvertraglichen Regelung oder Betriebsvereinbarung unterliegen. Dafür stellt er zwei Bedingungen. Erstens müssen die Beschäftigten vor der Einführung oder Änderung entsprechender Arbeitszeitregelungen informiert und angehört werden – mitbestimmen können sie also nicht. Zweitens soll der Arbeitgeber Maßnahmen ergreifen, um mögliche Risiken der Arbeitszeitorganisation für die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer zu vermeiden. Wenn diese aus Sicht der Belegschaften unzureichend sind – welche Rechte und Einflussmöglichkeiten haben diese dann?
Diese schwachen Bedingungen errichten keine ernsthaften Hindernisse für die Unternehmensleitungen, ihren Willen bei der Einführung oder Veränderung flexibler Arbeitszeitorganisation voll durchzusetzen. Die Unternehmerverbände könnten bestehende Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge zu Jahresarbeitszeitkonten kündigen und dann die (wahrscheinlich schlechteren) Bedingungen nutzen, die neue Gesetze und Verordnungen als Mindeststandards verankern.
Sind Bereitschaftszeiten Arbeitszeit?
Der Europäische Gerichtshof hat in bislang drei Urteilen (SIMAP, Jäger, Pfeiffer) verfügt, dass am Arbeitsplatz verbrachte Bereitschaftszeiten voll als Arbeitzeit bewertet werden müssen. Ferner müssen Ausgleichsruhezeiten unmittelbar im Anschluss an eine Arbeitsperiode mit Bereitschaftszeiten gewährt werden. Die Urteile stärkten die Position der Beschäftigten im Gesundheitswesen und Notfalldiensten.
Die Europäische Kommission schlägt vor, bei Bereitschaftszeiten zwischen einem aktiven und einem inaktiven Teil zu unterscheiden. Als aktiver Teil gilt, wenn auf ausdrückliche Aufforderung durch den Arbeitgeber Arbeitstätigkeit verrichtet wird. Der „inaktive“ Teil soll nicht als Arbeitszeit gewertet werden. Die Gewährung von Ausgleichsruhezeit soll bis zu 72 Stunden (d.h. 7 Arbeitstage) aufgeschoben werden können. Damit werden die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs auf den Kopf gestellt.
Nicht viel besser ist der Vorschlag des Beschäftigungsausschusses. Zwar soll auch der inaktive Teil der Bereitschaftszeit als Arbeitszeit gelten. Durch Kollektivverträge oder Gesetze und Verordnungen der Mitgliedstaaten soll ein besonderer Anrechnungsmodus dafür bestimmt werden können. Dies könnte zum Beispiel heißen, dass 8 Stunden „inaktiver“ Bereitschaftszeit nur als 10 Minuten, als 1 Stunde oder voll als Arbeitszeit gewertet werden. Die Ausgleichsruhezeit soll „folgend“ (following) auf eine Arbeitsperiode mit Bereitschaftsdienst gewährt werden, in Übereinstimmung mit den entsprechenden gesetzlichen oder kollektivvertraglichen Bestimmungen. „Folgend“ ist eine sehr unbestimmte Zeitspanne – sind das 10 Minuten, 1 Stunde, 2 Wochen?
Geht es nach dem Bericht des Beschäftigungsausschuss, dann erhält auch die Bundesregierung ein Instrument an die Hand, die mühsam erstrittene Neuregelung des deutschen Arbeitszeitgesetzes wieder zu kippen oder auf dem Verordnungsweg für eine andere Interpretation (Anrechnungsmodus) zu sorgen.
Die Linksfraktion setzt sich dafür ein, das Opt-out abzuschaffen, die klaren EuGH-Urteile zur Bereitschaftszeit voll umzusetzen und jedwede Aufweichung der Arbeitszeitrichtlinie zu verhindern. Angesichts der konservativ-liberalen Mehrheit im Europäischen Parlament wird dies bei der ersten Lesung des Cercas-Berichts im Mai in Strasbourg allerdings kaum Chancen haben. Die Mehrheit des Europäischen Parlaments ist offensichtlich entschlossen, das schwache Schutzniveau der EU-Arbeitszeitrichtlinie weiter abzusenken. Der Cercas-Bericht schlägt einen Tauschhandel vor: Abschaffung des Opt-outs gegen weitere Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Aushebelung der EuGH-Urteile. Dies ist eine historische Wende in der EU-Politik.
Sozialpolitische Mindestvorschriften der EU spiegelten bisher zwar meist nur den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Mitgliedstaaten mit hohem und solchen mit niedrigem Sozialschutzniveau wider. Doch es bestand stets ein parteiübergreifender Konsens, dass das europäische Mindestschutzniveau im Geiste des sozialen Fortschritts anzuheben sei, wenn auch langsam und of nur geringfügig. Damit ist es nun vorbei. Die EU legt den Rückwärtsgang ein.