Linke sieht die EU auf falschem Weg

Olaf Standke

Gründe für Zustimmung oder Ablehnung des Verfassungsentwurfs sind sehr unterschiedlich
Von Olaf Standke
Es mussten besondere Tage in Straßburg sein. Denn die riesige gläserne Wasserseite des Europäische Parlaments war geschmückt, was selten vorkommt. In den Sprachen der Mitgliedsländer konnte man das Hauptthema dieser Tagungswoche lesen: EU-Verfassung.

Parlamentspräsident Joseph Borrell verkündete sogar einen „historischen Tag“, als am Mittwoch die Abgeordneten im Plenarsaal über eine Entschließung des Hauses zum „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ entschieden. Dabei ist das Votum der 732 Parlamentarier aus 25 EU-Staaten rechtlich ohne Belang für das erste Grundgesetz der Union. Aber von einem politischen Signal für den begonnenen Ratifizierungsprozess sprachen sowohl Borell als auch der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker, der sich als amtierender EU-Ratspräsident höchst erfreut zeigte, dass sich die Abgeordneten mit deutlicher Mehrheit den Staats- und Regierungschefs angeschlossen haben – auch wenn sie „nur“ über einen Bericht abstimmten.
Einer der beiden Berichterstatter heißt Richard Corbett. Der einstige Gewerkschafter, seit gut acht Jahren für Labour im EU-Parlament, ist glühender Verfechter des Verfassungsentwurfs, was für Briten wahrlich nicht die Regel ist. „Wir brauchen eine EU-Verfassung“, sagte der 50-Jährige gegenüber ND, und der vorliegende Text sei nach den bisherigen EU-Verträgen eine eindeutige Verbesserung, nicht zuletzt, weil er die Rechte der Bürger stärke und Rechtsakte vereinheitliche, ohne einen allmächtigen „Superstaat“ zu konstituieren.
Für Jo Leinen, Vorsitzender des Verfassungsausschusses, kann es keinen Zweifel geben: Bei diesem „historischen Projekt“ sind die Bürger die Gewinner. Das meinten auf den ersten Blick auch fast alle sozialdemokratischen Abgeordneten, denn bei ihnen gab es nur eine Gegenstimme, dazu ein Dutzend Enthaltungen. Aber wie aus den Reihen der Fraktion zu erfahren war, wurde erheblicher Druck ausgeübt, zumindest nicht mit Nein zu plädieren. Die französischen Sozialisten haben da besondere Schwierigkeiten. So wurde aufmerksam registriert, dass beim Änderungsantrag der Konföderalen Fraktion der Vereinten Linken/Nordisch Grüne Linke (GUE/NGL) von den Sozialdemokraten nicht nur Ablehnung kam. Dabei stimmten nicht einmal alle 41 Mitglieder der GUE/ NGL für ihren eigenen Text.
Das zeigt: Die Ja-Front ist wie die Nein-Front in Sachen Verfassung durchaus differenziert, die Gründe für Zustimmung oder Ablehnung im Straßburger Plenum können sehr unterschiedlich sein. Die linke Fraktion etwa legt sehr großen Wert darauf, nicht mit Le Pen und anderen Rechtsnationalisten in einen Topf geworfen zu werden, auch wenn einige Mitglieder am Mittwoch die gleichen Poster mit der Aufschrift „Nicht in meinem Namen“ hochhielten. Wie Fraktionschef Francis Wurtz in seiner Rede betonte, ist das Nein der Linken eindeutig proeuropäisch.
Vor allem polnische EU-Gegner im Parlament wollten es nicht bei der normalen Stimmabgabe belassen, sie intonierten die Internationale und sorgten mit Buh- und „Lenin, Lenin“-Rufen für Unruhe im Saal. Im Innenhof des Parlaments gab es zeitgleich eine außerparlamentarische Protestveranstaltung. Für diese Verfassungsgegner ist das Ganze ein verkapptes marxistisch-leninistisches Projekt gegen die nationale Souveränität, nur dass an die Stelle Moskaus nun Brüssel getreten sei.
Katalanische Abgeordnete wiederum begründeten ihr Nein damit, dass die „Nationen ohne Staat“ im Verfassungsentwurf ungenügend berücksichtigt seien. Sie dürften im einzig direkt gewählten Organ der EU noch immer nicht in ihrer Sprache sprechen.
Die PDS-Gruppe in der linken Fraktion erkennt durchaus die Fortschritte des vorliegenden Verfassungstextes gegenüber dem so genannten Nizza-Vertrag an. Doch glaubt eine große Mehrheit „die europäische Einigung mit dieser Verfassung auf dem falschen Weg“. Sie kritisiert, dass das „Ziel des Vertrags die weitere Militarisierung der Europäischen Union hin zur globalen Kriegsführungsfähigkeit“ sei und die „Prinzipien des Neoliberalismus Verfassungsrang erhalten sollen“. In den allgemeinen „Zielen der Union“ sei zwar beschönigend die Rede von einer „in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft“, die auf Vollbeschäftigung, sozialen Fortschritt und ein hohes Maß an Umweltschutz abziele. „Im konkreten Politikteil wird dann aber Klartext geredet von der Verpflichtung auf den ›Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb‹“. Der vorgelegte Bericht stehe dem Verfassungsentwurf völlig unkritisch gegenüber.
Sylvia-Yvonne Kaufmann sieht das anders. Die langjährige EU-Expertin der PDS, die als Vertreterin der Linksfraktion im Grundrechte- und im Verfassungskonvent saß und stolz darauf ist, dass mehrere Dutzend Artikel auch ihre Handschrift tragen, sagte Nein zum Nein, weil sie die Ablehnung für „strategisch falsch“ hält. Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments sieht wohl Mängel und Widersprüche der Verfassung, aber auch die Chance, mit diesem „neuen Kapitel in der Integrationsgeschichte“, das natürlich ein Kompromiss sei, die real existierende EU zu entwickeln, sie „friedlich, sozial und demokratisch zu gestalten“.
In der Fraktion, so hörte man in Straßburg, habe nicht diese Meinung für Verstimmung gesorgt, sondern der gleichzeitige Vorwurf Sylvia-Yvonne Kaufmanns, die Linke habe sich beim Thema Verfassung zu wenig engagiert und keine überzeugenden Alternativvorschläge auf den Tisch gelegt.
In einem Punkt unterstützt die linke Fraktion den Parlamentsbericht allerdings vorbehaltlos: Er fordert, „dass alle möglichen Anstrengungen unternommen werden sollen, um die europäischen Bürger klar und objektiv über den Inhalt der Verfassung zu informieren“. Die GUE/NGL will sich dafür stark machen, dass in möglichst allen Staaten, in denen die Ratifizierung noch aussteht, Referenden stattfinden. Schließlich sei die EU-Verfassung für das Leben der Bürger von so großer Bedeutung, dass sie auch selbst darüber entscheiden sollen.n
Quelle: „Neues Deutschland“, 14.01.05