Widerstand gegen die Bolkestein-Richtlinie

Dass der Europäische Gewerkschaftsbund und der Dachverband der europäischen Klein- und Mittelbetriebe UEAPME an einem Strang ziehen, kommt nicht häufig vor. Der im Januar 2004 von Frits Bolkestein, dem Vorgänger des heutigen Binnenmarktkommissars Charlie McCreevy, vorgelegte Entwurf einer EU-Dienstleistungsrichtlinie hat es geschafft, unterschiedlichste Interessengruppen in einer gemeinsamen Front der Ablehnung zu vereinen.
Von Wohlfahrtsverbänden bis zu Anwaltskammern, von der Bundesvereinigung Bauwirtschaft über die Handwerkskammer bis zum Rat der Gemeinden und Regionen Europas, von RWE Thames Water über den Bundesrat bis zum französischen Staatsrat – die Liste der Kritiker vereint Organisationen, die im Normalfall selten miteinander für oder gegen eine Sache streiten.
Eigentlich sollte ein derart befehdetes Projekt geringe Chancen auf Durchsetzung haben. In diesem Fall freilich wird mit härtesten Bandagen für die Umsetzung gekämpft. Denn zu den Befürwortern des Vorhabens gehören die Lobbyorganisationen des europäischen Großkapitals: UNICE, die Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas, Eurochambres, der Dachverband der europäischen Industrie- und Handelskammern, AmCham, die Vertretung der in Europa tätigen US-Multis und natürlich der European Roundtable of Industrialists, die Industriellenlobby der Vorstandsvorsitzenden der 45 größten europäischen Konzerne. Sie alle betreiben massives Lobbying von Kommissions- und Parlamentsmitgliedern in Brüssel.
Das Interesse ist leicht verständlich. Zwar verweist die Richtlinie in ihrem Einleitungstext wiederholt auf kleine und mittlere Unternehmen als potentielle Nutznießer, in Wahrheit ist das Gesetzeswerk jedoch vollständig auf die Bedürfnisse multinational tätiger Dienstleistungskonzerne zugeschnitten. Dies vor allem aufgrund des geplanten „Herkunftslandprinzips“. Während bisher europäische Konzerne den Gesetzen des Landes unterliegen, in dem sie tätig sind, sollen in Zukunft für sie EU-weit nur noch die Standards ihres Heimatlandes gelten – beziehungsweise des Landes, in dem der Briefkasten mit ihrer Hauptadresse steht.
Die Konsequenz lässt sich ausmalen. Große Bauunternehmen werden ihren Firmensitz in das EU-Land mit den geringsten Sicherheitsanforderungen und Arbeitsschutznormen verlegen und dann mit Billigofferten ihre Konkurrenten ausstechen. Nicht wenige werden auch diese Vorschriften ignorieren, denn der besondere Charme der Richtlinie besteht darin, den Ländern, in denen die Konzerne tätig sind, nicht nur die Anwendung der eigenen Gesetze, sondern auch jegliche Kontrolle zu untersagen. Auch diese obliegt ausschließlich dem so genannten Herkunftsland, das weder Interesse noch Kapazitäten haben dürfte, die Auslandsaktivitäten seiner Firmen zu überwachen.
Kleineren Unternehmen dürfte es schwer fallen, ihre offizielle Residenz beliebig nach Riga, Porto oder wo immer es sich auszahlen mag, zu verlagern. UEAPME befürchtet daher, dass die Anwendung des „Herkunftslandprinzips“ eine Situation „unfairen Wettbewerbs“ heraufbeschwören würde. Klar erkannt hat der Mittelstandsverband auch, dass eine „Kontrolle durch das Herkunftsland unrealistisch“ ist.
Auch Arbeitnehmerrechte sind massiv bedroht. Zwar sind die im Rahmen der Entsenderichtlinie geregelten Bereiche offiziell ausgenommen vom Herkunftslandprinzip; aber erstens umfasst dies beispielsweise nicht das europaweit sehr unterschiedlich geregelte Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren; und zweitens greift auch hier das Kontrollverbot. Es ist absehbar, dass eine Umsetzung der Richtlinie das Ende von Mindestlohnstandards oder der in manchen EU-Ländern gesetzlich vorgeschriebenen tariflichen Bezahlung mit sich bringen würde.
Dabei ist nicht allein das Herkunftslandprinzip problematisch. Ebenso heikel sind die vorgesehenen Regulierungsverbote, die künftig beispielsweise öffentliche Eingriffe wie das Verbot von Dumpingpreisen oder die Festsetzung von Höchstpreisen verbieten würden. Untersagt wäre es künftig auch, bestimmte soziale Dienste dem Non-Profit-Sektor zu reservieren.
Die Richtlinie ist eine Kriegserklärung an alles, was an sozialen Rechten in der Europäischen Union die bisherige Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung überlebt hat. Doch allmählich formiert sich Widerstand. Im Herbst 2004 demonstrierten Tausende Menschen gegen Bolkesteins Machwerk, mobilisiert u. a. von Gewerkschaften und Attac. Am 19. März 2005 soll eine Großdemonstration, wieder in Brüssel, stattfinden. Zunehmend gibt es Veranstaltungen, in denen über die Richtlinie informiert und über Widerstand nachgedacht wird.
Obwohl inzwischen sogar die luxemburgische Ratspräsidentschaft vor „Sozialdumping“ warnt und Änderungsvorschläge angekündigt hat und auch im Europäischen Parlament Kritik formuliert wird, darauf die Hoffnung zu setzen, reicht nicht aus. Um den Generalangriff der Konzerne zurückzuweisen, bedarf es einer breiten Bewegung außerhalb der Parlamente, die stark genug wird, tatsächliche Änderungen zu erzwingen.