EU-Verfassungsvertrag: Eine Chance wurde vertan
Dass ein europäischer Verfassungsvertrag den Mitgliedstaaten zur Ratifizierung vorgelegt wird, ohne dass sich zuvor das Europäische Parlament zu Wort meldet – dieser Gedanke ist kaum vorstellbar. Es war daher das gute Recht und sogar die Pflicht des Parlaments, hier seine Stimme zu erheben, geht es doch um die Gestaltung der europäischen Integration für womöglich mehrere Jahrzehnte. So stand die Debatte über den Bericht der beiden Abgeordneten Corbett und Méndez de Vigo über den Vertrag über eine Verfassung für Europa im Mittelpunkt der Januarsitzung in Straßburg.
Doch mit dem vorgelegten Bericht und mit seinem Beschluss darüber hat das Europäische Parlament die ihm gebotene Chance einer kritischen und damit glaubwürdigen Stellungnahme leider vertan. Nur Lob und Unkritisches kann man dort lesen. Die Mehrheit des Parlaments konnte sich nicht einmal dazu aufraffen, an eigene, sehr viel weiter gehende Forderungen zu erinnern, die sich im Verfassungsvertrag nicht finden. Man musste so den Eindruck gewinnen, dass sich die Mehrheit des Parlaments bereits als Teil der von Kommission, Rat und Parlament angekündigten Öffentlichkeitskampagne für eine Ratifizierung des Verfassungsvertrages versteht. Da passt es ins Bild, dass, noch während die Abstimmung lief, auf den Gängen des Parlaments bereits Hochglanzbroschüren mit bunten Bildern der Pro-Kampagne verteilt wurden. Und kurz nach der Abstimmung wurden aufwändig Transparente an der Fassade angebracht, auf denen aus dem Verfassungsvertrag zitiert wurde. Man stelle sich vor, die deutsche Bundesregierung würde nach einer Abstimmung ähnlich verfahren und das Reichstagsgebäude mit Propagandatexten verhüllen lassen! Was würden wohl die Oppositionsparteien dazu sagen?
Doch die öffentliche Debatte um den Entwurf für einen Europäischen Verfassungsvertrag hat gezeigt, dass es in den Mitgliedsländern und auch im Europäischen Parlament neben Zustimmung sehr wohl auch eine kritische Öffentlichkeit gibt, die mit Sorge auf diesen Text blickt. Und je bekannter der Text in der Öffentlichkeit wird, je größer wird die Zahl dieser Kritiker. Ich spreche hier von Gewerkschaften, Sozialverbänden, Friedensbewegungen, Nichtregierungsorganisationen wie etwa Attac und von den Parteien der Linken, die nahezu alle den Verfassungsvertrag ablehnen.
Kritisiert wird von ihnen die im Verfassungsvertrag vorgesehene weitere Militarisierung der Europäischen Union hin zur globalen Kriegsführungsfähigkeit. Er soll die „auf militärische Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen“ sichern. Aufrüstung wird Verfassungsgebot, indem „die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“. Eine „Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung“ wird das überwachen und „zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors“ durchsetzen. Durch Aufrüstung und militärische Forschung auf höchstem Ausgabenniveau werden die öffentlichen Kassen aller Einzelstaaten weiter geschröpft.
Kritisiert wird, dass die Prinzipien des Neoliberalismus Verfassungsrang erhalten sollen. In den allgemeinen „Zielen der Union“ ist zwar beschönigend die Rede von einer „in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität.“ Im konkreten Politikteil wird dann aber Klartext geredet von der Verpflichtung auf den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb.“ Damit wird die neoliberale Wirtschaftsordnung von Maastricht in einen Europäischen Verfassungsvertrag eingraviert.
Nahezu einmütig haben daher die Abgeordneten der Fraktion der Vereinten Linken GUE/NGL im Europäischen Parlament, unter ihnen nahezu alle PDS-Europaabgeordnete, den Bericht Corbett/Méndez de Vigo abgelehnt. Sie haben damit zugleich ihr Nein zum vorliegenden Verfassungsvertrag zum Ausdruck gebracht.
Im mehrheitlich gefassten Beschluss des Parlaments wird am Ende u. a. gefordert, „dass alle möglichen Anstrengungen unternommen werden sollen, um die europäischen Bürger klar und objektiv über den Inhalt der Verfassung zu informieren“. Eine „klare und objektive Information über den Inhalt der Verfassung“, die die Kritiker des Verfassungsentwurfs nicht zu Wort kommen lässt, ist aber nicht vorstellbar.