Zur Kritik des Vertrags über eine Verfassung für Europa
Am 29. Oktober 2004 unterzeichneten in Rom die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer der Europäischen Union den Vertrag über eine Verfassung für Europa. Die Entstehung einer europäischen Verfassung ist ein Vorgang von grundlegender und historischer Bedeutung. Die Verfassung sollte daher aus öffentlich und breit geführten Debatten hervorgehen und sich am Ende auf eine möglichst große Mehrheit der Bevölkerung stützen können. Und sie sollte – ähnlich den nationalen Verfassungen – einen Rahmen schaffen, der unterschiedlichen politischen Auslegungen Raum bietet. Nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kann davon ausgegangen werden, dass eine solche Verfassung auch Bestand hat.
Wird der vorgelegte Verfassungsvertrag diesen Kriterien gerecht? Der Entwurf für den Vertrag wurde von einem Konvent ausgearbeitet, an dem auch Parlamentarier der Mitgliedsländer und des Europäischen Parlaments teilnahmen. Diese Abkehr von der bisher geübten Praxis der Diplomatie hinter den geschlossenen Türen von Regierungskonferenzen ist zu begrüßen. Und doch blieb die Ausarbeitung und Diskussion des Verfassungsvertrages bis heute eine Angelegenheit kleiner Expertengruppen. Diese Beschränkung wäre durchbrochen worden, hätten sich die Bundestagsparteien dazu durchringen können auch in Deutschland, wie in zehn anderen EU-Ländern, eine Volksabstimmung über den Verfassungsvertrag abzuhalten. Der Text wäre bekannt und damit eine Auseinandersetzung über ihn überhaupt erst möglich geworden. Doch weder die rotgrüne Bundesregierung noch die Opposition hatten ein ernsthaftes Interesse daran, die Bevölkerung direkt darüber entscheiden zu lassen. Und nicht einmal die für die parlamentarische Beratung und Beschlussfassung zur Verfügung stehenden Fristen werden genutzt. In großer Eile soll die Ratifizierung in Bundestag und Bundesrat bereits bis Mitte Mai abgeschlossen sein. Zeit hätte man aber bis Ende 2006 gehabt.
Wie steht es nun mit dem Kriterium der Offenheit des Verfassungsvertrages für unterschiedliche politische Auslegungen? Wer die insgesamt 448 Artikel und die dazu gehörenden mehr als 300 weitere Seiten umfassenden Protokolle und Erklärungen unvereingenommen liest, wird am Ende feststellen, dass hier nicht ein für unterschiedliche politische Inhalte offener Text vorgelegt wurde, sondern eine ganz bestimmte Politik bis in kleinste Details bereits festgelegt ist. Und dies ist auch nicht verwunderlich, handelt es sich bei dem dritten Teil des Verfassungsvertrages um den weitgehend unveränderten Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, die, neben dem Vertrag über die Europäische Union, gegenwärtig gültige wichtigste vertragliche Grundlage der EU. Damit erhalten aber auch die neoliberalen Bestimmungen von Maastricht Verfassungsrang. Es bleibt also dabei, dass auch in Zukunft die Wirtschaftspolitik „im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft“ stehen soll. Wachsende Armut und steigende Arbeitslosigkeit in der gesamten EU haben aber inzwischen unübersehbar bewiesen, dass diese Politik längst gescheitert ist. Dennoch wird an ihr festgehalten. In der Außen- und Sicherheitspolitik wird mit dem Verfassungsvertrag der verhängnisvolle Weg einer Militarisierung Europas weiter beschritten. So wird etwa die Einrichtung einer Verteidigungsagentur festgeschrieben. Die Mitgliedstaaten werden zudem verpflichtet, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“. Europa wird den USA so immer ähnlicher.
Die PDS-Europaabgeordneten lehnen nahezu geschlossen diesen Verfassungsvertrag ab. Sie tun dies gemeinsam mit fast allen ihren Mitstreitern aus den anderen europäischen Linksparteien, die im Europäischen Parlament in der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke zusammengeschlossen sind. Die in dieser Broschüre enthaltenen Artikel geben die wichtigsten Gründe für unsere Ablehnung wider. Mit diesen Artikeln soll zugleich ein Beitrag zur Information über den in der Bundesrepublik noch weitgehend unbekannten Inhalt des Verfassungsvertrages geleistet werden. Im Anhang finden sich zudem in Kurzform die Positionen der PDS-Europaabgeordneten. Darin enthalten sind auch erste Skizzen für einen anderen Verfassungsvertrag, denn die Verabschiedung einer europäischen Verfassung bleibt eine dringende Aufgabe, um die europäische Integration sozial, demokratisch und zivil zu gestalten.