Tiefe Gräben in Europa
»Zusammenarbeit für Wachstum und Arbeitsplätze in den Regionen« heißt das Motto der Europäischen Woche der Regionen. Dass sich hinter dem Titel auch das Eingeständnis einer mangelhaften europäischen Wachstums- und Beschäftigungsbilanz verbirgt, belegt die EU-Kommission in ihrem »Dritten Zwischenbericht über den Zusammenhalt«. Demnach lag die EU-Beschäftigungsquote 2003 bei durchschnittlich 62,9 Prozent, was von der bis 2010 angestrebten Zielvorgabe von 70 Prozent weit entfernt liegt. Um die zu erreichen, müssten 22 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Entwicklungsdisparitäten zwischen den EU-Staaten haben sich zwar verringert, die regionalen Disparitäten aber, insbesondere zwischen städtischen und ländlichen Gebieten, haben sich weiter verschärft.
15 Prozent der EU-Bevölkerung leben in Regionen mit einer Beschäftigungsrate von unter 55 Prozent, das Pro-Kopf-BIP liegt in einer Spanne von 189 Prozent des EU-Durchschnitts in den zehn reichsten gegenüber 36 Prozent in den zehn ärmsten Regionen der EU. Die zum Teil beachtlichen Wachstumsraten der neuen EU-Mitgliedsländer haben nicht zu mehr Beschäftigung, sondern größtenteils zu einem Beschäftigungsrückgang geführt. Diese Negativentwicklung geht nicht allein auf das Konto europäischer Regionalpolitik. Die neoliberale Verfasstheit der Union und ihrer Mitgliedstaaten, die fehlende Harmonisierung der Wirtschaftspolitik und der Sozialabbau machen zunichte, was Regionalpolitik eigentlich bewegen will: den existierenden Disparitäten entgegenzuwirken und das Solidarprinzip als Kontrapunkt zum Wettbewerbs- und Binnenmarktprinzip zu etablieren.
Für den Zeitraum 2007 bis 2013 hat sich die EU nun in ihren »Strategischen Leitlinien für die Kohäsionspolitik« drei Schwerpunkte gesetzt: eine höhere Attraktivität der Mitgliedstaaten und ihrer Regionen durch bessere Anbindung, Dienstleistungsqualität und Erhalt des Umweltpotenzials; die Förderung von Innovation, Unternehmergeist und Wachstum durch Ausbau der Forschungs- und Innovationskapazitäten; und die Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen. Diese Prioritätensetzung kann ich durchaus unterstützen, nicht jedoch die praktizierte Form ihrer Umsetzung. Es ist kontraproduktiv, transeuropäische Verkehrskorridore zu finanzieren, ohne Mittel für die regionale Anbindung einzuplanen, oder Forschungs- und Innovationskapazitäten ausbauen zu wollen und gleichzeitig die Mittel für schulische und universitäre Ausbildung zurückzufahren.
Wenn unter der Schaffung von Arbeitsplätzen nur der Anstieg von prekären Beschäftigungsverhältnissen verstanden wird, wenn Staaten wie die Bundesrepublik europäische Gelder entgegennehmen und analog dazu eigene Aufwendungen der Regionalförderung absenken, wird es keine Verbesserungen geben. Regionalpolitik kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie mit entsprechender Wirtschafts- und Sozialpolitik untersetzt wird und alle anderen gesellschaftspolitischen Bereiche berücksichtigt. Dies bedeutet auch, dass Kultur nicht gekürzt werden darf, dass Schulstandorte nicht geschlossen werden, dass es eine falsche Politik ist, wenn in Dörfern mit 1000 Einwohnern kein Laden mehr vorhanden, der Bahnhof stillgelegt und die Post schon lange geschlossen ist. Eine erfolgreiche Regionalpolitik misst sich daran, die Abwanderung von jungen Menschen zu stoppen. Regionalpolitik muss nicht in Legislaturperioden gedacht werden, sondern in Generationen.
Quelle:
Neues Deutschland