Arbeitspapier zum Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt, erstellt für den Ausschuss für Wirtschaft und Währung

Nach Angaben der Europäischen Kommission besteht das Ziel der Dienstleistungsrichtlinie darin, die “rechtlichen und administrativen Hindernisse für den Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen, damit ein echter Markt für Dienstleistungen entstehen kann.“ Von ihrer Umsetzung werden Wachstumsimpulse sowie positive Beschäftigungseffekte erwartet. Im Besonderen wird wiederholt auf kleinere und mittlere Unternehmen als besondere Nutznießer verwiesen.
Die Dienstleistungsrichtlinie definiert ihren Geltungsbereich außerordentlich weit. Nach Angaben der Kommission soll mit ihr ein Rechtsrahmen geschaffen werden, der auf etwa 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und 60 Prozent der Beschäftigung in der Europäischen Union Anwendung findet. Diese weitreichenden Konsequenzen sollten ein Grund mehr sein, die möglichen Folgen der Richtlinie sehr genau zu prüfen. Im Folgenden stehen dabei ausschließlich die Fragen im Vordergrund, die in die Kompetenz des Ausschusses für Wirtschaft und Währung fallen.

Geltungsbereich – Horizontaler versus sektoraler Ansatz

Erfasst werden von der Richtlinie „ alle wirtschaftlichen Tätigkeiten, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, ohne dass die Dienstleistung von demjenigen bezahlt werden muss, dem sie zugute kommt, und unabhängig davon, wie die wirtschaftliche Gegenleistung, die das Entgelt darstellt, finanziert wird.“ Ausgenommen sind Finanzdienstleistungen, eletronische Kommunikation, Transportdienstleistungen, soweit diese durch andere Rechtsakte geregelt werden, und das Steuerwesen. Nicht unter die Richtlinie fallen zudem definitionsgemäß hoheitliche Aufgaben des Staates, sofern diese ohne Entgelt erbracht werden.
Die Richtlinie stellt sich somit die Aufgabe, solch extrem unterschiedliche Bereiche wie Unternehmensberatung, Zeitarbeitsvermittlung, Anwalts- und Notarsberufe, Bauwirtschaft, Handel, Gas-, Elektrizitäts- und Wasserversorgung, Müllbeseitigung, Kindergärten, Volkshochschulen, Universitäten, Hörfunk und Fernsehen sowie Gesundheits- und Pflegedienste im Rahmen einer einheitlichen Rechtsetzung zu regeln.
Damit erwächst als erstes die Frage, ob eine gleichgeschaltete Regelung für derart heterogene Bereiche möglich, sowie zweitens, ob sie durch geltendes EG-Recht gedeckt ist.
Zumindest letzteres scheint fraglich. Beispielsweise sind nach EG-Vertrag (Art. 44 Abs. 1 und Artikel 52 Abs.1) Liberalisierungsvorschriften im Bereich der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs immer nur für eine ‚bestimmte’ Tätigkeit oder Dienstleistung gestattet. Hier wird also ausdrücklich ein sektoraler anstelle eines horizontalen Ansatzes vorgeschrieben. Auf diesen Widerspruch wird in zahlreichen Positionierungen hingewiesen. So betont u.a. die deutsche Länderkammer, der Bundesrat, „ , dass der EG-Vertrag aus gutem Grund Liberalisierungsvorschriften im Bereich der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs immer nur für eine ‚bestimmte’ Tätigkeit oder Dienstleistung gestattet. Diese sektorale Beschränkung gewährleistet, dass bereichsspezifische Belange und Besonderheiten sorgfältig erwogen und berücksichtigt werden können.“
Es sollte zudem nicht ignoriert werden, dass eine sektorale Regelung auch von vielen betroffenen Unternehmen bzw. ihren Organisationen gefordert wird. Das gilt für die Bundesvereinigung Bauwirtschaft in Deutschland ebenso wie für den Dachverband des europäischen Handwerks und der kleinen und mittleren Unternehmen UEAPME, der den horizontalen Ansatz ausdrücklich als unangemessen kritisiert.
Insofern stellt sich die Frage, ob die Richtlinie nicht im Grundansatz als verfehlt zu beurteilen ist und folgerichtig bereits aus diesem Grund an die Kommission zurückverwiesen werden muss.

Subsidiarität

Eine zweite Frage, der nachgegangen werden muss, betrifft die Vereinbarkeit des Richtlinien-Vorschlags mit dem Subsidiaritätsprinzip. Zwar klammert die Richtlinie Dienstleistungen von allgemeinem Interesse aus ihrem Geltungsbereich aus. Diese Ausklammerung erfolgt indes auf Basis einer außerordentlich engen Definition dieser Dienstleistungen, da über das Entgeltkriterium weite Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge in den Bereich der von der Richtlinie erfassten Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse fallen. So ist das Europäische Verbindungskommitee über Dienste von Allgemeinem Interesse (CELSIG) überzeugt, dass die Richtlinie de facto auch auf Dienste von allgemeinem Interesse Anwendung findet, und fordert daher, den Richtlinienvorschlag mit dem Weißbuch und der Entschließung des Europäischen Parlaments (Herzog-Bericht) in Übereinstimmung zu bringen .
Die genaue Grenzziehung zwischen „Diensten von allgemeinem Interesse“ und solchen von „allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ ist allerdings nicht der ausschlaggebende Punkt. Ausschlaggebend ist, dass nach geltender Rechtsetzung auch die Entscheidung über die Art und Weise der Erbringung der Leistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (im Sinne der Definition der Richtlinie) bei den Mitgliedstaaten liegt. So bestimmt beispielsweise Art. 152 Abs. 5 EGV ausdrücklich die Nachrangigkeit der europäischen Ebene gegenüber den Nationalstaaten bei der Organisation des Gesundheitssystems. Ebensowenig sollte die schleichende Begründung von Unionskompetenzen bei Hörfunk, Wasser, Kultur, Bildung oder sozialen Diensten hingenommen werden.
Denn der Verdacht liegt nahe, dass – während die Debatte über öffentliche Daseinsvorsorge im Rahmen des Weißbuches kontrovers geführt wird und längst nicht abgeschlossen ist – mittels des vorliegenden Richtlinienvorschlags Fakten geschaffen werden, die im Effekt den gesamten Bereich der öffentlichen und gemeinnützigen Dienstleistungen via Gebührenkriterium in den Geltungsbereich einer EU-Binnenmarktrichtlinie hineinziehen. Auch die im Auftrag des Binnenmarktausschusses in Auftrag gegebene Studie über die „legal repercussions of the draft services directive and its impact on national services regulation“ kommt zu dem Ergebnis: „The draft services directive has repercussions for specific policy areas – such as health care and culture – which only fall within the complementary competence of the community. The draft does not contain sufficient guarantees that the power of the member states in these matters will be respected.”
Gemeinschaftsrechtliche sektorspezifische Regelungen kommen bisher nur bei solchen Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse in Betracht, die auf Grund ihrer Größe und strukturellen Vernetzung gemeinschaftsweite Bedeutung haben. Solche Bereiche wurden bereits im Rahmen gesonderter Richtlinien geregelt. Hier besteht daher ebensowenig Neuregelungsbedarf wie in der Frage der Finanzdienstleistungen.
Eine Mindestforderung zur Veränderung des vorliegenden Richtlinienvorschlags sollte daher darin bestehen, sowohl Dienstleistungen von allgemeinem Interesse als auch Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse vollständig aus dem Geltungsbereich auszuklammern, wobei die Definition der Bandbreite der unter diese beiden Begriffe fallenden Dienste den Mitgliedstaaten obliegt.
In einem ergänzenden Papier erklärt übrigens auch die Kommission, die Richtlinie berühre nicht „die Freiheit der Mitgliedstaaten festzulegen, was sie für eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse halten und wie diese organisiert und finanziert werden sollen.“ Es wäre ein beträchtlicher Fortschritt, würde der Text der Richtlinie mit diesem Anspruch in Übereinstimmung gebracht.

Verwaltungsvereinfachungen und Regulierungsverbote

Es ist unstrittig, dass es bürokratische Hemmnisse gibt, die gerade kleineren Unternehmen das Leben schwer machen, und dass die Beseitigung solcher Hemmnisse das Wirtschaftsleben befördern würde. Die entscheidende Frage ist, wo die Bürokratie aufhört und berechtigte Regulierungsinteressen und Kontrollnotwendigkeiten beginnen.
Laut dem bereits zitierten ergänzenden (freilich rechtsunwirksamen) Papier der Kommission sollen über die Richtlinie „Hemmnisse nur in den Bereichen beseitigt werden…, die bereits für den Wettbewerb geöffnet wurden. Der Vorschlag fordert keinesfalls die Liberalisierung oder Privatisierung von Dienstleistungen, die derzeit vom Staat oder von anderen öffentlichen Einrichtungen auf nationaler, regionaler oder kommunaler Ebene erbracht werden“
Mit der Richtlinie in der vorliegenden Form steht diese Beteuerung allerdings nicht in Übereinstimmung. Erwägungsgrund 28 und Artikel 12 dekretieren vielmehr Marktöffnungszwang für private Anbieter: „Ist die Zahl der verfügbaren Genehmigungen für eine bestimmte Tätigkeit limitiert – aufgrund der Begrenztheit der natürlichen Ressourcen oder der technischen Kapazitäten, zum Beispiel bei der Vergabe analoger Radiofrequenzen oder beim Betrieb eines Wasserkraftwerks – ist ein Verfahren für die Auswahl zwischen mehreren Antragstellern vorzusehen, um mit Hilfe des freien Wettbewerbs höchstmögliche Qualität und optimale Angebotsbedingungen im Interesse der Dienstleistungsempfänger zu erzielen.“
Generell sollen die Regulierungskompetenzen der Mitgliedstaaten im Dienstleistungsbereich extrem eingeschränkt werden. So sollen Genehmigungen generell nur noch erlaubt sein, wenn sie „objektiv durch ein zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses gerechtfertigt“ sind (Artikel 10). Unter anderem der deutsche Bundesrat hält das für eine „nicht hinnehmbare Einengung nationaler Regelungskompetenzen“ und fordert zum mindesten die Streichung der Worte „objektiv“ und „zwingend“.
Eine Reihe staatlicher Anforderungen an Dienstleistungsunternehmen sollen in Zukunft gänzlich verboten werden. Dazu gehören: Residenzpflicht; das Verbot der Errichtung von Niederlassungen in mehreren Mitgliedstaaten; der Zwang zur Eintragung in Register oder der Registrierung bei Standesorganisationen; Beschränkungen der Wahlfreiheit für eine Niederlassung in Form einer Agentur, einer Zweigstelle oder einer Tochtergesellschaft; eine wirtschaftliche Überprüfung im Einzelfall, bei der die Genehmigung vom Nachweis eines wirtschaftlichen Bedarfs oder einer Nachfrage im Markt abhängig gemacht wird, wirtschaftliche Auswirkungen der Tätigkeit beurteilt werden oder ihre Eignung für die Verwirklichung wirtschaft¬licher Programmziele bewertet wird; ferner die Pflicht, eine finanzielle Sicherheit zu stellen oder eine Versicherung bei einem Dienstleistungserbringer oder einer Einrichtung, die auf ihrem Hoheitsgebiet niedergelassen sind, abzuschließen.
Noch einschneidender und gravierender wäre die Abschaffung jener Anforderungen, betreffs derer sich die Mitgliedstaaten einem gegenseitigen Evaluierungsverfahren unterwerfen sollen, dessen angestrebtes Ergebnis – das Verbot – die Richtlinie deutlich erkennen läßt.
Zu diesen „zu prüfenden“ Anforderungen gehören: mengenmäßige oder territoriale Beschränkungen, Anforderungen, die vom Dienstleistungserbringer eine bestimmte Rechtsform verlangen, namentlich das Erfordernis, eine juristische Person, eine Personen¬gesellschaft oder eine Gesellschaft ohne Erwerbszweck zu sein; Anforderungen im Hinblick auf die Beteiligungen am Gesellschaftsvermögen, insbesondere eine Mindestkapitalausstattung für bestimmte Tätigkeiten; Anforderungen, die eine Mindestbeschäftigtenzahl verlangen; die Beachtung festgesetzter Mindest und/oder Höchstpreisen; Verbote und Verpflichtungen im Hinblick auf Verkäufe unter dem Einstandspreis; oder auch Pflichten für die Dienstleistungserbringer, zusammen mit ihrer Dienstleistung bestimmte andere Dienstleistungen zu erbringen.
Abschließend fordert Kapitel II noch ein Moratorium für eventuelle Re-Regulierungen, die von der Zustimmung der Kommission abhängig gemacht werden: „Mit dem Inkrafttreten der vorliegenden Richtlinie dürfen die Mitgliedstaaten neue Anforderungen der in Absatz 2 genannten Art nur einführen, sofern diese die in Absatz 3 aufgeführten Bedingungen erfüllen [„objetiv“ und „zwingend“] und durch geänderte Umstände begrün¬det sind. Die Mitgliedstaaten teilen neue Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie deren Begründung im Entwurfs¬stadium der Kommission mit. Binnen drei Monaten nach der Mitteilung prüft die Kommission die Vereinbarkeit dieser neuen Vorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht und entscheidet gegebenen¬falls, den betroffenen Mitgliedstaat aufzufordern, diese nicht zu erlassen oder zu beseitigen.“
Der hier vorgesehene Evaluierungsprozess kollidiert nicht nur insofern mit geltendem EG-Recht, als er die Mitgliedstaaten unter Vormundschaft sowie unter Überprüfungs- und Begründungszwang stellt; er würde auch, so die angestrebten Regulierungsverbote erreicht werden, schlimme Konsequenzen auf die Qualität und flächendeckende Versorgung mit essentiellen Dienstleistungen innerhalb der EU haben.
Beispielsweise bedeutet das Verbot von Einschränkungen der Rechtsformwahl, dass kein einziger Bereich des gesellschaftlichen Lebens mehr gemeinnützigen, nicht gewinn-orientierten Unternehmen beziehungsweise dem Non-Profit-Sektor reserviert werden darf. Sämtliche Barrieren für private Geschäftsinteressen in bisher aus gutem Grund marktfernen, nicht liberalisierten Bereichen würden damit niedergerissen. Zugleich verlören die Kommunen die Möglichkeit, jene Rechtform zu wählen, die den notwendigen Grad an demokratischer Kontrolle sichert. Letzteres wäre z.B. in Deutschland mit der grundgesetzlich vorgeschriebenen kommunalen Selbstverwaltung (Art 28, Abs. 2 GG) nicht vereinbar.
Das Verbot einer Beschränkung mengenmäßiger Zulassungsgrenzen beträfe Zulassungsgrenzen für Arztpraxen oder Apotheken, was die Gefahr einer Überversorgung in lukrativen sowie einer Unterversorgung in ärmeren Wohngegenden mit sich bringt. Das Verbot der Anforderung von Mindest- und Höchstpreisen stellt Honorarordnungen zwischen Ärzten und Sozialversicherungen ebenso in Frage wie Honorarordnungen bei Rechtsanwälten, Ingenieuren oder Architekten.
Mit der Unzulässigkeit von Dumpingverboten könnten Konzerne künftig mit durch Quersubventionierung finanzierten Dumpingpreisen aggressiv neue Märkte erobern, ein Wettlauf, bei dem viele Mittelständler auf der Strecke blieben. Dass die Richtlinie immer wieder auf KMUs als potentielle Nutznießer verweist, erscheint auch im Lichte dieser Regelung abseitig. Die Infragestellung der Zulässigkeit von Dumpingverboten wird mit Grund auch von UEAPME scharf kritisiert und kollidiert zudem mit anderen EU-Richtlinien, so etwa der Richtlinie zur „Verkaufsförderung am Binnenmarkt“.
Nebenbei sei erwähnt, dass auch eine Reihe weiterer „Verwaltungsvereinfachungen“ mit nationalem Recht in Widerspruch geraten dürften. So ist etwa der zu Beginn von Kapitel II (Artikel 6) vorgeschriebene einheitliche Ansprechpartner mit dem föderalen System in nicht wenigen Mitgliedstaaten nicht in Übereinstimmung zu bringen.

Herkunftslandprinzip

Der freie Dienstleistungsverkehr wird in Kapitel III geregelt und soll künftig ausschließlich auf Basis des Herkunftslandprinzips organisiert werden. Letzteres bedeutet, dass bei Inanspruchnahme grenzüberschreitender Dienstleistungsfreiheit der Dienstleistungserbringer hinsichtlich „ Qualität und Inhalt der Dienstleistung, der Werbung, der Verträge und der Haftung“ (Artikel 16, Abs. 1) allein den Bestimmungen seines Herkunftslandes unterliegt.
Ausgeschlossen vom Herkunftslandprinzip sind lediglich eine Reihe von Dienstleistungen der Daseinsvorsorge (Post, Wasser, Elektrizität, Gas u.a.).
Auch hier stellt sich die Frage, ob das Herkunftslandprinzip als umfassendes Regelungsinstrument nicht in Widerspruch zu geltendem EG-Recht steht, das deutlich in Richtung eines Bestimmungslandprinzips argumentiert. So heißt es in Art. 50 EGV (freier Dienstleistungsverkehr), dass „ der Leistende zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit vorübergehend in dem Staat ausüben [kann], in dem die Leistung erbracht wird, und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt“. Der elementare Grundsatz der Nichtdiskriminierung beinhaltet gerade, dass Unternehmen mit ausländischem Firmensitz nach gleichem Recht behandelt werden müssen wie inländische. Das Herkunftslandprinzip dagegen bedeutet nicht gleiches Recht für in- und ausländische Dienstleistungserbringer, sondern ungleiches. Je nachdem, ob die Rechtsvorschriften im Heimatland höher oder niedriger als im Bestimmungsland sind, wird der ausländische Dienstleistungserbringer gegenüber heimischen Unternehmen entweder bevorteilt oder schlechter gestellt. Im Ergebnis würden damit auf dem Territorium jedes EU-Staates 25 Rechtsordnungen gleichzeitig gelten, was ganz sicher nicht zu mehr Rechtssicherheit, sondern zu erheblicher Rechtsunsicherheit beitragen dürfte, gerade für KMUs, die sich keine eigene Rechtsabteilung leisten können.
Die Kollision mit wesentlichen Bestimmungen des EG-Vertrages dürfte auch die Ursache für die ausgesprochen dünne Rechtsgrundlage sein, auf die sich die Richtlinie bezieht. Denn weder auf Artikel 43 EG-Vertrag (Niederlassungsfreiheit) noch auf die Artikel 49 bis 55 EGV (Dienstleistungen) wird Bezug genommen, weshalb auch die vom Binnenmarktausschuss in Auftrag gegebene Studie zu dem Schluss kommt, „ it could be questioned, whether the legal basis covers the current version of the proposal.“ Die fehlenden Artikel sind freilich genau jene Vertragsbestimmungen, die elementaren Grundsätzen der Richtlinie widersprechen, indem sie das Bestimmungslandprinzip (Art. 50) und den sektoralen Ansatz bei Liberalisierungsvorhaben (Art. 52). verankern. Eine Erweiterung der Rechtsbasis der Richtlinie ist insofern anzustreben.
Darüber hinaus steht das Herkunftslandprinzip natürlich auch dem Anspruch einer weiteren Harmonisierung der Standards innerhalb der EU konträr entgegen, ja wird im Vorwort der Kommission ausdrücklich als alternativer Weg zu dem Bemühen um weitere Harmonisierung behandelt: „Mit der Anwendung des Herkunftslandprinzips kann die Dienstleistungsfreiheit sichergestellt und gleichzeitig Raum gelassen werden für ein pluralistisches Nebeneinander der verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten mit all ihren Eigenheiten…“
Damit wird der Perspektive einer Erarbeitung gemeinsamer Standards in einem demokratischen Rechtssetzungsprozess eine Absage erteilt. Allerdings wird auch das „pluralistische Nebeneinander der verschiedenen Rechtsordnungen“ kaum von Dauer sein. Vielmehr wird mit dem Herkunftslandprinzip ein Weg beschritten, der absehbar zu einer nivellierenden Angleichung der Standards auf jeweils niedrigstem Niveau in Form eines Unterbietungs- und Dumpingwettlaufs, also zur unsozialsten und undemokratischstem Form der Vereinheitlichung, führen wird.
Denn insbesondere größere Dienstleistungsunternehmen werden geradezu eingeladen, ihre Briefadresse auszulagern und ihre Tätigkeit statt als Niederlassung als Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs zu definieren. Immerhin dürfen die Mitgliedstaaten Dienstleistungserbringer, die im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs auf ihrem Hoheitsgebiet tätig werden, nach der Richtlinie nicht mehr verpflichten, dort auch eine Niederlassung zu unterhalten. Im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit wird den Unternehmen sogar erlaubt, „…sich im Bestimmungsmitgliedstaat mit einer bestimmten Infrastruktur (wobei es sich auch um ein Büro, eine Kanzlei oder eine Praxis handeln kann) auszustatten, sofern dies zur Erbringung der betreffenden Leistung erforderlich ist“ , ohne deshalb eine Niederlassung gründen zu müssen. Eine Niederlassung liegt nach der Richtlinie nur im Falle einer „festen Einrichtung auf unbestimmte Zeit“ vor. Auch der deutsche Bundesrat verweist darauf, dass diese enge Definition “ …dazu ein[lädt], die restriktiveren Vorschriften über die Niederlassung … zugunsten der liberaleren Vorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr … zu umgehen.“
Denn in diesem Rahmen darf die Tätigkeit der Dienstleister fast überhaupt nicht mehr reguliert werden. Die Eintragung in ein Register darf ebenso wenig abverlangt werden wie eine offizielle Anschrift, eine Vertretung auf dem Hoheitsgebiet oder das Benennen einer Person als Zwangsbevollmächtigtem. Selbstverständlich dürfen die Mitgliedstaaten die Unternehmen auch nicht mehr verpflichten, die auf ihrem Hoheitsgebiet für die Erbringung der Dienstleistung geltenden Anforderungen zu erfüllen. (Artikel 16, Abs. 3)
Es spricht also einiges dafür, dass die Richtlinie Anreize zur Ausflaggung und zum Errichten von Briefkastenfirmen setzt, um Umwelt-, Arbeits- und Gesundheitsstandards, Qualifikationsanforderungen und Tarifverträge zu unterlaufen. Da auch die Mehrfachregistrierung nicht mehr verboten werden darf, können sich einzelne Unternehmen sogar für unterschiedliche Bereiche ihrer Tätigkeit maßgeschneidert unterschiedliche Länder als Briefkastenadresse heraussuchen.
Das Herkunftslandprinzip ist daher als allgemeines Prinzip in jedem Fall zurückzuweisen. Denkbar wäre allenfalls, das Herkunftslandprinzip in den Bereichen zu akzeptieren, in denen Gemeinschaftsrichtlinien eine vollständige Harmonisierung vorsehen, da in diesen Fällen das Niveau der Standards gleichwertig ist. Zugleich ist die Definition einer Niederlassung so auszuweiten, dass Missbrauchsmöglichkeiten und die Gründung von Briefkastenfirmen weitestgehend ausgeschlossen werden.

Kontrolle

Sämtliche Kontrollbefugnisse gegenüber den Dienstleistungserbringern liegen gemäß Dienstleistungsrichtlinie ebenfalls beim Herkunftsland. Unbeantwortet bleibt die Frage, inwiefern das Herkunftsland ausreichende Kapazitäten zur Erfüllung dieser Aufgabe hat oder auch, wie groß sein Interesse sein wird, die Auslandsaktivitäten seiner Dienstleistungsfirmen zu überwachen. Die Sorge scheint daher berechtigt, dass mit der Richtlinie jede effektive Wirtschaftsaufsicht außer Kraft gesetzt wird.
Insbesondere bei der Mehrwertsteuer ist Betrug schon heute ein zentrales Problem. Die Richtlinie beseitigt faktisch sämtliche innerstaatlichen Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung. Ein weiter schwindendes Umsatzsteueraufkommen ist daher zu erwarten. Auch im Bereich direkter Steuern und Sozialabgaben würden die Kontrollmöglichkeiten in Zukunft noch mehr erschwert. Der Europäische Verband des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe UEAPME ist im Hinblick auf den freien Dienstleistungsverkehr der Ansicht, dass der Ursprungsgrundsatz in sehr zahlreichen Bereichen nicht anwendbar und die Kontrolle durch den Herkunftsmitgliedstaat unrealistisch ist. Die Anwendung dieses Grundsatzes könnte, befürchtet UEAPME, eine Situation des ‚unlauteren Wettbewerbs’ verursachen .

Steuern
Die in der Richtlinie enthaltenen Regeln sind allerdings nicht nur eine Einladung zum Sozial- und Steuerbetrug. Auch die legalen Folgewirkungen auf das Steuerwesen der Mitgliedstaaten scheinen zumindest unklar. Das vereinfachte Umgehen der Errichtung einer Niederlassung dürfte es beispielsweise noch mehr erleichtern, in Hochsteuerländern erwirtschaftete Gewinne in Niedrigsteuerländern zu veranlagen. Umgekehrt kann sich aus Artikel 20(b) die Konsequenz ergeben, dass Verluste, die durch eine ausländische Betriebsstätte verursacht werden, im Inland steuerlich anerkannt werden müssen. In jedem Fall kann festgehalten werden, dass betreffs Steuern eine Reihe offener Fragen existieren und die Umsetzung der Richtlinie in der jetzt vorliegenden Form eine Schwächung des Steueraufkommens in den Mitgliedstaaten zur Folge haben könnte.

Kosten
Zur Begründung der Richtlinie wird oft auf die Reduzierung von Kosten als besonderem Vorzug verwiesen. Tatsächlich verringert die Richtlinie allerdings, wenn überhaupt, nur die Kosten auf Unternehmensebene, während die öffentlichen Verwaltungskosten erheblich anschwellen dürften. Allein die Notwendigkeit, Schriftstücke in der Sprache des Herkunftslandes akzeptieren zu müssen – also Dolmetscher für gegenwärtig 20 Sprachen stets verfügbar zu haben – dürfte erheblichen Mehraufwand für die öffentlichen Verwaltungen in den Mitgliedsländern mit sich bringen. Von dem komplizierten Evaluierungsprozesses ganz zu schweigen.

Zusammenfassung
Weit entfernt, lediglich den grenzüberschreitenden Verkehr von Dienstleistungen innerhalb der Europäischen Union zu regeln, greift die Richtlinie tief in die innerstaatliche Rechtssetzung und in die Organisation der öffentlichen Daseinsvorsorge ein. Ihre Umsetzung käme einem allumfassenden Liberalisierungs- und Deregulierungsdurchbruch gleich, der das europäische Sozialmodell in seinen Grundfesten infrage stellen würde. Aus diesem Grund ist es ein Gebot der sozialen Verantwortung ebenso wie der Verantwortung gegenüber den Wirkungsbedingungen kleinerer und mittlerer Unternehmen innerhalb der EU, den Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission in der vorliegenden Form zurückzuweisen.

(Bei diesem Text handelt es sich um die Langfassung des offiziellen Arbeitspapiers)