Ein politisches Erdbeben. Was erzählt uns das französische und niederländische Nein zum EU-Verfassungsvertrag wirklich? – Beitrag von Sylvia-Yvonne Kaufmann, MdEP (Linkspartei.PDS), Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments in der Mitgliederzeits

Nicht Europafeindlichkeit führte zum Nein. Vielmehr gaben Unzufriedenheit mit nationaler Politik und andere Vorstellungen von der EU den Ausschlag. Doch die Folgen erweisen sich als kontraproduktiv. Die EU-Verfassung wurde in Frankreich mit 54,7 und in den Niederlanden mit 61,6% bei einer hohen Wahlbeteiligung (69,3 bzw. 62,8%) abgelehnt. Man nahm den politischen Eliten einfach nicht mehr ab, dass mit der Verfassung ein sozialeres Europa möglich sei und die Union in die Lage versetzt werden könne, die mit der Globalisierung verbundenen Herausforderungen humaner zu bewältigen. Dies löste in der EU ein politisches Erdbeben aus. Seine langfristigen Folgen sind noch nicht absehbar.

EU erfüllt Erwartungen nicht
In beiden Ländern gaben jedoch nur magere 18% aller Wählerinnen und Wähler als entscheidendes Motiv für die Teilnahme am Referendum die Verfassung an, um die es eigentlich ging. Außerdem spielten konkrete Kritikpunkte an ihrem Inhalt eine eher nachrangige Rolle. Vielmehr wehrten sich Bürgerinnen und Bürger gegen soziale und andere Schieflagen nationaler Politik und dagegen, dass die eigenen Handlungsräume durch Binnenmarkt, Währungsunion und EU-Aufsicht über Industrie- und Strukturpolitik stark begrenzt werden. Aus der Sicht vieler Menschen erfüllt die EU die an sie gestellten Erwartungen nicht. Sie wird für ständigen Wandel, unsichere äußere Grenzen, verschärften Wettbewerb bzw. für Eingriffe ins soziale Netz verantwortlich gemacht. Beide Referenden offenbarten eine tiefe Verunsicherung der Menschen über Inhalt, Fortgang und Richtung des Integrationsprozesses. Sie waren auch eine nachträgliche Abstimmung über die EU-Erweiterung und die der Türkei eröffneten Beitrittsoption. Besonders Franzosen fällt es schwer, sich mit der erweiterten EU zu identifizieren, weil Europa immer weniger wie Frankreich ist. Dennoch meinen Franzosen und Niederländer mehrheitlich, dass die EU-Mitgliedschaft ihrer Länder eine „gute Sache“ sei und der Integrationsprozess fortgesetzt werden müsse. In den Niederlanden sind sogar 77% dieser Ansicht. Ins Auge fällt, dass militärische Aspekte der Verfassung, wie die Verpflichtung zur Aufrüstung oder die so genannte Verteidigungsagentur, keine markante Rolle spielten. Das erklärt sich wohl daraus, dass die EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit 81% in beiden Ländern auf eine recht hohe Zustimmung der Bevölkerung trifft. Auch Terrorismusbekämpfung wird als eine eher europäische Aufgabe angesehen.

Dennoch unterscheiden sich die Motive für das Nein in Frankreich deutlich von denen in den Niederlanden. In Frankreich stand nationale Politik verwoben mit dem Wunsch nach einem sozialen, protektionistischen und weniger deregulierten Europa sowie mit einem beschäftigungsorientierten Euro im Mittelpunkt. In den Niederlanden gaben zwar auch nationale Erwägungen den Ausschlag. Hier dominierte jedoch die Sorge, das „kleine“ Land könnte in der EU der 25-Plus seine Mitwirkungsmöglichkeiten verlieren, während eine Union mit effizientem Binnenmarkt und fairem Wettbewerb weniger moniert wurde.
Votum gegen Neoliberalismus
In Frankreich wurde das Verfassungsreferendum zum Volksentscheid gegen neoliberale Wirtschaftspolitik und für ein soziales Europa (Europe sociale). Die Menschen wünschen sich eine EU, die Stabilität, Wohlstand und Beschäftigung sichert. Sie reagierten damit zugleich darauf, dass das Kapital floriert und europäische Multis Superprofite verbuchen – nicht zuletzt aufgrund Binnenmarkt, Währungsunion und Erweiterung. Mit Recht empfinden viele Bürgerinnen und Bürger, dass sie der Staat vor Globalisierung nicht schützt und dass auch im vereinten Europa Solidarität und Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben.

Die sich verschlechternde soziale Lage, die hohe Arbeitslosigkeit und damit verbundene Zukunftsängste der Menschen gaben den Ausschlag für das Nein. Bis 4. März 2005 hatten französische Umfrageinstitute eine stabile Mehrheit von 60% für die Verfassung signalisiert. Am 18. März wurden plötzlich nur noch 46% registriert, und dabei sollte es bis zum Referendum am 29. Mai bleiben. Die Stimmung war innerhalb weniger Tage gekippt und die linken, weitgehend proeuropäisch agierenden Verfassungsgegner (Sozialisten, Kommunisten, Trotzkisten und Globalisierungsgegner von ATTAC) gewannen die Oberhand. Im März hatte eine Welle landesweiter Proteste, Massendemonstrationen und Streiks das Land erschüttert, an denen unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen beteiligt waren – Schüler, Lehrer, Wissenschaftler, Post- und Eisenbahnbedienstete, Mitarbeiter von France Télécom und Flughäfen. Im öffentlichen Dienst schmiedeten Gewerkschaften breite Aktionsbündnisse. Dadurch wurde es möglich, die Kritik an der kaum überschaubaren Verfassung auf vertraute Ebenen der innenpolitischen Auseinandersetzung zu übertragen. 31% der befragten Nein-Wähler begründeten ihre Entscheidung dann damit, dass sie eine Verschärfung der Arbeitslosigkeit befürchteten, während 26% auf die schlechte soziale Situation im Land hinwiesen. In weiteren Umfragen, die ebenfalls Mehrfachantworten zuließen, gaben 52% der Nein-Wähler die schlechte wirtschaftliche und soziale Lage im Land an. Für 40% war der zu liberale Charakter der Verfassung und für 39% die Möglichkeit von Neuverhandlungen im Falle ihrer Ablehnung ein Ablehnungsgrund unter anderen. 32% der Nein-Wähler, vor allem Anhänger rechtsextremer Parteien, sahen in der Verfassung eine Bedrohung für Frankreich. Viele Franzosen nutzten ihre Stimmabgabe als Gelegenheit, den Herrschenden einen Denkzettel (vote sanction) zu verpassen und so „auf eine europäische Frage eine französische Antwort zu geben“. Abgestraft wurde die Arroganz der Macht der herrschenden Eliten im eigenen Land und in der EU. 31% der Nein-Wähler gaben dies zu Protokoll.

Wählertäuschung eingeschlossen
Etwa zwei Drittel der potentiellen Anhänger der gesamten französischen Linken und ca. 95% der Anhänger rechtsextremer Parteien hatten mit Nein gestimmt. Ein Hauptakteur unter den Linken war der Sozialist und Ex-Premier Laurant Fabius mit seiner „föderalistisch-sozialistischen Kritik“ an der Verfassung. Das ist schon paradox. Fabius gehörte stets zum sozialliberalen Flügel seiner Partei, hatte deshalb auch als Premier das liberale Binnenmarktkonzept massiv befördert und galt noch 2000 als Kandidat seiner Partei für den IWF-Vorsitz. Bei ihm dürfte es daher vor allem darum gegangen sein, sich als Kandidat aller Linken für die Präsidentschaftswahl 2007 die Poleposition zu ergattern. Auch Senator Jean-Luc Mélenchon, ein weiterer prominenter Nein-Befürworter aus der SP, hatte 1992 beim Maastricht-Referendum umtriebig mitgeholfen, dass dieser ultraliberale Vertrag mit Währungsunion und Euro gerade noch mit 51% durchgeboxt werden konnte. Beide Politiker tragen erhebliche Verantwortung dafür, dass der Bevölkerung die deutlichen Fortschritte der Verfassung gegenüber dem geltenden EU-Vertrag nicht vermittelt wurden, obwohl beim Referendum eigentlich genau über diese Frage zu entscheiden war. Hingegen setzte Fabius auf die Fata Morgana von Neuverhandlungen, was schlicht Wählertäuschung war. Bei sensiblen Fragen hat die Linke die Verfassung sogar teilweise falsch wiedergegeben. So wurde tatsachenwidrig behauptet, es fehle die Gleichstellung von Mann und Frau oder mit der Verfassung werde das Abtreibungsverbot wieder eingeführt. Ferner wurde mehr Demokratie in der EU eingefordert. Aber obwohl hier der Verfassungsvertrag die weitreichendsten Verbesserungen enthält, wurde dennoch massiv gegen die „undemokratische“ Verfassung gewettert.

Unkenntnis über die Verfassung
Die Furcht vor einem „neoliberalen Dammbruch“ war in den Niederlanden nicht entscheidend, obwohl wie in Frankreich vor allem sozial Schwache, Arbeiter und verunsicherte Mittelschichten mit Nein stimmten. Als Gründe gaben 14% Kritik am Sparkurs der Regierung bzw. an den etablierten Parteien und 5% die Arbeitslosigkeit im Lande an. 7% befürchteten eine Verschlechterung der Lage am Arbeitsmarkt. Selbst bei Anhängern der Sozialistischen Partei (SP), die unserer linken Fraktion im Europaparlament angehört, waren diese Gründe nur bei 5 bzw. 3% maßgeblich. Für die meisten Niederländer verbarg sich hinter ihrem Nein vielmehr ein grundsätzliches Unbehagen über die Entwicklung der EU – diffuse Ängste vor „Überfremdung“ und einem Einfluss- und Souveränitätsverlust des Landes (19%), die Unmut, größter „Zahlmeister“ der Union zu sein (13%), die nachträglich dem Euro angelastete Teuerungsrate und eine zu rasch vollzogene Erweiterung.

Ausschlaggebend für die niederländische Ablehnung der Verfassung war letztlich der Mangel an Information über das Vertragswerk, den 32% übereinstimmend als Motiv für ihr Nein angaben. Seinen Inhalt kritisierten aus unterschiedlichsten Gründen etwa 38% der Nein-Wähler. Das politische Establishment hatte es in seiner Arroganz der Macht verabsäumt, die Bevölkerung umfassend über den komplizierten Vertragstext aufzuklären. Die Pro-Verfassungskampagne startete erst kurz vor dem Referendum, und sie nahm zum Teil regelrecht erpresserische Züge an. Konservative, Sozialdemokraten wie Grüne hatten sich davon leiten lassen, dass die bislang als integrationsfreudig geltende Bevölkerung die Verfassung schon durchwinken würde. Aber nicht einmal die Sozialdemokraten vermochten ihre Anhänger zu überzeugen. 57% der PvdA-Wähler stimmten mit Nein. Demgegenüber hatte eine extrem heterogene und relativ kleine Gruppe von Verfassungsgegnern seit Monaten die Trommel gerührt. Zu ihr gehörten die linke SP, die nationalistisch agierenden Reste der Liste Pim Fortuyn und die Anhänger des rechtsextremen Volkstribunen Geert Wilders. Dennoch meinten nur 2% der Nein-Wähler, von der Antiverfassungskampagne maßgeblich beeinflusst worden zu sein.

Kontraproduktive Folgen
In Frankreich argumentierte die Linke in Anlehnung an frühere Revolutionstheorien, die EU müsse durch ein französisches Nein zur Verfassung in eine „produktive Krise“ gestürzt werden. Nur so könne linke Politik künftig mehr Durchsetzungsfähigkeit erlangen und die Chance für die Schaffung eines „anderen Europa“ eröffnet werden. Durchaus vorhersehbar erwies sich diese Strategie aber rasch als Trugschluss. Das Nein brachte gerade jenen neue Spielräume, die die EU in eine Freihandelszone de Luxe verwandeln wollen und ihre Entwicklung hin zu einer demokratisch-republikanischen Union der Bürgerinnen und Bürger ablehnen. Genau diesen Kräften spielte das Nein in die Hände, ebenso Europagegnern, Nationalisten und den Neokonservativen in den USA. Es hievte den „Meister des Liberalismus“ in Europa, den britischen Premier, in eine Führungsrolle. Tony Blair, der am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernahm, hält ebenfalls nicht viel von der Verfassung. Sie ist ihm zu sozial und solidarisch. Ganz im Sinne des neoliberalen Mainstreams orientiert Blair auf den politischen Rückbau der Union, weshalb er sie – wie seine neoliberalen Chorknaben aus CDU/CSU und FDP – als „überbordende Bürokratie“, „Brüsseler Zentralismus“ oder „Superstaat“ geißelt. Im Kern geht es dabei aber um Deregulierung – vor allem des europäischen Arbeitsmarkts. Kapital und Multis, die die Verfassung eh nie wollten, triumphieren. Dem Big Business genügt eine Freihandelszone de Luxe mit den vier Grundfreiheiten für Kapital, Waren, Dienstleistungen und billigen Arbeitskräften, mit Währungsunion und Stabilitätspakt. „Mit der Verfassung“, so Thomas Straubhaar, Leiter des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs, „wären wir zum heutigen Zeitpunkt über das Ziel hinausgeschossen. Aus der Sicht der Wirtschaft haben wir in der Tat genug Europa.“

Nicht Europafeindlichkeit führte zum Nein. Vielmehr gaben Unzufriedenheit mit nationaler Politik und andere Vorstellungen von der EU den Ausschlag. Doch die Folgen erweisen sich als kontraproduktiv. Die EU-Verfassung wurde in Frankreich mit 54,7 und in den Niederlanden mit 61,6% bei einer hohen Wahlbeteiligung (69,3 bzw. 62,8%) abgelehnt. (1) Man nahm den politischen Eliten einfach nicht mehr ab, dass mit der Verfassung ein sozialeres Europa möglich sei und die Union in die Lage versetzt werden könne, die mit der Globalisierung verbundenen Herausforderungen humaner zu bewältigen. Dies löste in der EU ein politisches Erdbeben aus. Seine langfristigen Folgen sind noch nicht absehbar.

EU erfüllt Erwartungen nicht

In beiden Ländern gaben jedoch nur magere 18% aller Wählerinnen und Wähler als entscheidendes Motiv für die Teilnahme am Referendum die Verfassung an, um die es eigentlich ging. Außerdem spielten konkrete Kritikpunkte an ihrem Inhalt eine eher nachrangige Rolle. (2) Vielmehr wehrten sich Bürgerinnen und Bürger gegen soziale und andere Schieflagen nationaler Politik und dagegen, dass die eigenen Handlungsräume durch Binnenmarkt, Währungsunion und EU-Aufsicht über Industrie- und Strukturpolitik stark begrenzt werden. Aus der Sicht vieler Menschen erfüllt die EU die an sie gestellten Erwartungen nicht. Sie wird für ständigen Wandel, unsichere äußere Grenzen, verschärften Wettbewerb bzw. für Eingriffe ins soziale Netz verantwortlich gemacht. Beide Referenden offenbarten eine tiefe Verunsicherung der Menschen über Inhalt, Fortgang und Richtung des Integrationsprozesses. Sie waren auch eine nachträgliche Abstimmung über die EU-Erweiterung und die der Türkei eröffneten Beitrittsoption. Besonders Franzosen fällt es schwer, sich mit der erweiterten EU zu identifizieren, weil Europa immer weniger wie Frankreich ist. (3) Dennoch meinen Franzosen und Niederländer mehrheitlich, dass die EU-Mitgliedschaft ihrer Länder eine „gute Sache“ sei und der Integrationsprozess fortgesetzt werden müsse. In den Niederlanden sind sogar 77% dieser Ansicht. (4) Ins Auge fällt, dass militärische Aspekte der Verfassung, wie die Verpflichtung zur Aufrüstung oder die so genannte Verteidigungsagentur, keine markante Rolle spielten. Das erklärt sich wohl daraus, dass die EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit 81% in beiden Ländern auf eine recht hohe Zustimmung der Bevölkerung trifft. (5) Auch Terrorismusbekämpfung wird als eine eher europäische Aufgabe angesehen.

Dennoch unterscheiden sich die Motive für das Nein in Frankreich deutlich von denen in den Niederlanden. In Frankreich stand nationale Politik verwoben mit dem Wunsch nach einem sozialen, protektionistischen und weniger deregulierten Europa sowie mit einem beschäftigungsorientierten Euro im Mittelpunkt. In den Niederlanden gaben zwar auch nationale Erwägungen den Ausschlag. Hier dominierte jedoch die Sorge, das „kleine“ Land könnte in der EU der 25-Plus seine Mitwirkungsmöglichkeiten verlieren, während eine Union mit effizientem Binnenmarkt und fairem Wettbewerb weniger moniert wurde. (6)

Votum gegen Neoliberalismus

In Frankreich wurde das Verfassungsreferendum zum Volksentscheid gegen neoliberale Wirtschaftspolitik und für ein soziales Europa (Europe sociale). (7) Die Menschen wünschen sich eine EU, die Stabilität, Wohlstand und Beschäftigung sichert. Sie reagierten damit zugleich darauf, dass das Kapital floriert und europäische Multis Superprofite verbuchen – nicht zuletzt aufgrund Binnenmarkt, Währungsunion und Erweiterung. Mit Recht empfinden viele Bürgerinnen und Bürger, dass sie der Staat vor Globalisierung nicht schützt und dass auch im vereinten Europa Solidarität und Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben.

Die sich verschlechternde soziale Lage, die hohe Arbeitslosigkeit und damit verbundene Zukunftsängste der Menschen gaben den Ausschlag für das Nein. (8) Bis 4. März 2005 hatten französische Umfrageinstitute eine stabile Mehrheit von 60% für die Verfassung signalisiert. Am 18. März wurden plötzlich nur noch 46% registriert, und dabei sollte es bis zum Referendum am 29. Mai bleiben. (9) Die Stimmung war innerhalb weniger Tage gekippt und die linken, weitgehend proeuropäisch agierenden Verfassungsgegner (Sozialisten, Kommunisten, Trotzkisten und Globalisierungsgegner von ATTAC) gewannen die Oberhand. Im März hatte eine Welle landesweiter Proteste, Massendemonstrationen und Streiks das Land erschüttert, an denen unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen beteiligt waren – Schüler, Lehrer, Wissenschaftler, Post- und Eisenbahnbedienstete, Mitarbeiter von France Télécom und Flughäfen. Im öffentlichen Dienst schmiedeten Gewerkschaften breite Aktionsbündnisse. Dadurch wurde es möglich, die Kritik an der kaum überschaubaren Verfassung auf vertraute Ebenen der innenpolitischen Auseinandersetzung zu übertragen. 31% der befragten Nein-Wähler begründeten ihre Entscheidung dann damit, dass sie eine Verschärfung der Arbeitslosigkeit befürchteten, während 26% auf die schlechte soziale Situation im Land hinwiesen. In weiteren Umfragen, die ebenfalls Mehrfachantworten zuließen, gaben 52% der Nein-Wähler die schlechte wirtschaftliche und soziale Lage im Land an. (10) Für 40% war der zu liberale Charakter der Verfassung und für 39% die Möglichkeit von Neuverhandlungen im Falle ihrer Ablehnung ein Ablehnungsgrund unter anderen. 32% der Nein-Wähler, vor allem Anhänger rechtsextremer Parteien, sahen in der Verfassung eine Bedrohung für Frankreich. (11) Viele Franzosen nutzten ihre Stimmabgabe als Gelegenheit, den Herrschenden einen Denkzettel (vote sanction) zu verpassen und so „auf eine europäische Frage eine französische Antwort zu geben“. (12) Abgestraft wurde die Arroganz der Macht der herrschenden Eliten im eigenen Land und in der EU. 31% der Nein-Wähler gaben dies zu Protokoll. (13)

Wählertäuschung eingeschlossen

Etwa zwei Drittel der potentiellen Anhänger der gesamten französischen Linken (14) und ca. 95% der Anhänger rechtsextremer Parteien hatten mit Nein gestimmt. Ein Hauptakteur unter den Linken war der Sozialist und Ex-Premier Laurant Fabius mit seiner „föderalistisch-sozialistischen Kritik“ an der Verfassung. (15) Das ist schon paradox. Fabius gehörte stets zum sozialliberalen Flügel seiner Partei, hatte deshalb auch als Premier das liberale Binnenmarktkonzept massiv befördert und galt noch 2000 als Kandidat seiner Partei für den IWF-Vorsitz. Bei ihm dürfte es daher vor allem darum gegangen sein, sich als Kandidat aller Linken für die Präsidentschaftswahl 2007 die Poleposition zu ergattern. Auch Senator Jean-Luc Mélenchon, ein weiterer prominenter Nein-Befürworter aus der SP, hatte 1992 beim Maastricht-Referendum umtriebig mitgeholfen, dass dieser ultraliberale Vertrag mit Währungsunion und Euro gerade noch mit 51% durchgeboxt werden konnte. Beide Politiker tragen erhebliche Verantwortung dafür, dass der Bevölkerung die deutlichen Fortschritte der Verfassung gegenüber dem geltenden EU-Vertrag nicht vermittelt wurden, obwohl beim Referendum eigentlich genau über diese Frage zu entscheiden war. Hingegen setzte Fabius auf die Fata Morgana von Neuverhandlungen, was schlicht Wählertäuschung war. (16) Bei sensiblen Fragen hat die Linke die Verfassung sogar teilweise falsch wiedergegeben. So wurde tatsachenwidrig behauptet, es fehle die Gleichstellung von Mann und Frau oder mit der Verfassung werde das Abtreibungsverbot wieder eingeführt. Ferner wurde mehr Demokratie in der EU eingefordert. Aber obwohl hier der Verfassungsvertrag die weitreichendsten Verbesserungen enthält, wurde dennoch massiv gegen die „undemokratische“ Verfassung gewettert.

Unkenntnis über die Verfassung

Die Furcht vor einem „neoliberalen Dammbruch“ war in den Niederlanden nicht entscheidend, obwohl wie in Frankreich vor allem sozial Schwache, Arbeiter und verunsicherte Mittelschichten mit Nein stimmten. (17) Als Gründe gaben 14% Kritik am Sparkurs der Regierung bzw. an den etablierten Parteien und 5% die Arbeitslosigkeit im Lande an. 7% befürchteten eine Verschlechterung der Lage am Arbeitsmarkt. Selbst bei Anhängern der Sozialistischen Partei (SP), die unserer linken Fraktion im Europaparlament angehört, waren diese Gründe nur bei 5 bzw. 3% maßgeblich. Für die meisten Niederländer verbarg sich hinter ihrem Nein vielmehr ein grundsätzliches Unbehagen über die Entwicklung der EU – diffuse Ängste vor „Überfremdung“ und einem Einfluss- und Souveränitätsverlust des Landes (19%), die Unmut, größter „Zahlmeister“ der Union zu sein (13%), die nachträglich dem Euro angelastete Teuerungsrate und eine zu rasch vollzogene Erweiterung.

Ausschlaggebend für die niederländische Ablehnung der Verfassung war letztlich der Mangel an Information über das Vertragswerk, den 32% übereinstimmend als Motiv für ihr Nein angaben. Seinen Inhalt kritisierten aus unterschiedlichsten Gründen etwa 38% der Nein-Wähler. (18) Das politische Establishment hatte es in seiner Arroganz der Macht verabsäumt, die Bevölkerung umfassend über den komplizierten Vertragstext aufzuklären. Die Pro-Verfassungskampagne startete erst kurz vor dem Referendum, und sie nahm zum Teil regelrecht erpresserische Züge an. Konservative, Sozialdemokraten wie Grüne hatten sich davon leiten lassen, dass die bislang als integrationsfreudig geltende Bevölkerung die Verfassung schon durchwinken würde. Aber nicht einmal die Sozialdemokraten vermochten ihre Anhänger zu überzeugen. 57% der PvdA-Wähler stimmten mit Nein. Demgegenüber hatte eine extrem heterogene und relativ kleine Gruppe von Verfassungsgegnern seit Monaten die Trommel gerührt. Zu ihr gehörten die linke SP, die nationalistisch agierenden Reste der Liste Pim Fortuyn und die Anhänger des rechtsextremen Volkstribunen Geert Wilders. Dennoch meinten nur 2% der Nein-Wähler, von der Antiverfassungskampagne maßgeblich beeinflusst worden zu sein.

Kontraproduktive Folgen

In Frankreich argumentierte die Linke in Anlehnung an frühere Revolutionstheorien, die EU müsse durch ein französisches Nein zur Verfassung in eine „produktive Krise“ gestürzt werden. Nur so könne linke Politik künftig mehr Durchsetzungsfähigkeit erlangen und die Chance für die Schaffung eines „anderen Europa“ eröffnet werden. Durchaus vorhersehbar erwies sich diese Strategie aber rasch als Trugschluss. Das Nein brachte gerade jenen neue Spielräume, die die EU in eine Freihandelszone de Luxe verwandeln wollen und ihre Entwicklung hin zu einer demokratisch-republikanischen Union der Bürgerinnen und Bürger ablehnen. Genau diesen Kräften spielte das Nein in die Hände, ebenso Europagegnern, Nationalisten und den Neokonservativen in den USA. Es hievte den „Meister des Liberalismus“ in Europa, den britischen Premier, in eine Führungsrolle. Tony Blair, der am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernahm, hält ebenfalls nicht viel von der Verfassung. Sie ist ihm zu sozial und solidarisch. Ganz im Sinne des neoliberalen Mainstreams orientiert Blair auf den politischen Rückbau der Union, weshalb er sie – wie seine neoliberalen Chorknaben aus CDU/CSU und FDP – als „überbordende Bürokratie“, „Brüsseler Zentralismus“ oder „Superstaat“ geißelt. Im Kern geht es dabei aber um Deregulierung – vor allem des europäischen Arbeitsmarkts. Kapital und Multis, die die Verfassung eh nie wollten, triumphieren. Dem Big Business genügt eine Freihandelszone de Luxe mit den vier Grundfreiheiten für Kapital, Waren, Dienstleistungen und billigen Arbeitskräften, mit Währungsunion und Stabilitätspakt. „Mit der Verfassung“, so Thomas Straubhaar, Leiter des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs, „wären wir zum heutigen Zeitpunkt über das Ziel hinausgeschossen. Aus der Sicht der Wirtschaft haben wir in der Tat genug Europa.“ (19)

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1 Vgl. Flash Eurobarometer der Europäischen Kommission: The European Constitution: Post-referendum survey in France, Juni 2005 und The European Constitution: Post-referendum survey in The Netherlands, Juni 2005. Ihnen sind auch alle weiteren Angaben, sofern nicht gesondert ausgewiesen, entnommen.
2 Jopp, Mathias/Kuhle, Gesa-S., Wege aus der Verfassungskrise – die EU nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden. In: Integration, Nr. 3/2005.
3 Vgl. Interview mit dem französischen Philosophen André Glucksmann. In: Der Tagesspiegel vom 22. Mai 2005.
4 Eurobarometer 63 der Europäischen Kommission, Juli 2005, S.11.
5 Eurobarometer 63, a.a.O., S.32/33.
6 Vgl. Jopp, Mathias/Kuhle, Gesa-S., a.a.O.
7 Vgl. Rifkin, Jeremy, Das Nein zur EU-Verfassung ist ein Protest gegen den ökonomischen Wildwuchs… In: Die Zeit, 24/2005.
8 Vgl. Schild, Joachim, Ein Sieg der Angst – das gescheiterte französische Verfassungsreferendum. In: Integration, Nr. 3/2005.
9 Vgl. IPSOS, Dokumentation der Ergebnisse einer Abstimmungsbefragung. Abrufbar unter http://www.ipsos.fr/CanalIpsos/poll/8074.asp.
10 Vgl. IPSOS, a.a.O.
11 Vgl. IPSOS, a.a.O.
12 Vgl. Schild, Joachim, a.a.O.
13 Vgl. IPSOS, a.a.O.
14 Davon Anhänger der Trotzkisten 94%, der Kommunisten 98%, der Sozialisten 56% und der Grünen 60%.
15 Vgl. Schild, Joachim, a.a.O.
16 Vgl. Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela, Das Nein ist ein Weckruf für Europa. In: Süddeutsche Zeitung vom 2. Juni 2005.
17 Vgl. Lang, Kai-Olaf/ Majkowska, Joanna, Die Niederlande – Europas neue Neinsager?, SWP-Aktuell 26, Juni 2005.
18 5% sahen nichts Positives im Text, während er für 6% zu weitreichend war. Für weitere 6% war er zu technokratisch, für 5% zu liberal, für 5% zu schwierig und für weitere 5% aufgezwungen.
19 Die Welt vom 21. Juni 2005.