Leser werden auf den Holzweg geführt – Leserbrief im Neuen Deutschland vom 8. April 2005
Zu „Wenn der Rechts- ein Holzweg ist“ (ND vom 18.3.)
Dem guten Anliegen der Redaktion, darüber zu informieren, was wirklich in der EU-Verfassung steht, wird Andreas Wehr, Mitarbeiter unserer Fraktion im Europäischen Parlament und Autor der ND-Serie, auch in seinem dritten Beitrag, diesmal zur „EU-Innen- und Rechtspolitik“ (die korrekt Innen- und Justizpolitik heißt) nicht gerecht. Die Leserschaft wird auf den Holzweg geführt, wenn er nur am Rande über dieses Politikfeld informiert und sich stattdessen auf die Schilderung eines einzigen Gesetzes im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, den umstrittenen Europäischen Haftbefehl, beschränkt. Dieser EU-Rahmenbeschluss kam zudem natürlich nicht durch die Verfassung, sondern auf Grundlage des geltenden Nizza-Vertrags zu Stande und hat folglich unmittelbar mit ihren Inhalten nichts zu tun.
In aller Kürze seien hier Politikbereiche genannt, die die EU-Innen- und Justizpolitik
umfasst: Asyl- und Einwanderungspolitik, Schutz der EU-Außengrenzen, Visapolitik, Datenschutz, Antidiskriminierung, Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie von Terrorismus und von grenzüberschreitender Kriminalität einschließlich des Menschenhandels mit Frauen und Kindern, Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege, die
gegenseitige Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen in
Zivilsachen. Da alle Bereiche Menschen- und Bürgerrechte berühren, ist es von großer Bedeutung, dass diese durch Aufnahme der Grundrechtecharta in die Verfassung Verfassungsrang erhalten und dass die EU als künftiges Völkerrechtssubjekt per Verfassung verpflichtet wird, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beizutreten. Beides könnte gerade für uns Linke eine Berufungsgrundlage sein im Kampf um die Wahrung individueller Rechte.
Eher beiläufig erwähnt der Autor, dass die wichtigste Veränderung mit der Verfassung bei der Innen- und Justizpolitik darin besteht, dass sie aus der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Gemeinschaftspolitik überführt wird. Was das jedoch bedeutet, wird verschwiegen. Tatsächlich geht es um eine weitgehende Überwindung des Demokratiedefizits in der EU. Mit der Verfassung erhält das Europaparlament endlich die erforderlichen Rechte als Gesetzgeber. Die Regierungen dürfen als Ministerrat künftig nicht mehr allein entscheiden und werden gezwungen, Gesetzgebung öffentlich vorzunehmen. Ferner wird Europol parlamentarischer Kontrolle und der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) unterworfen. Das wird auch für die per Verfassung neu geschaffene Europäische Staatsanwaltschaft und Eurojust gelten. Für diesen Paradigmenwechsel ist die PDS im Übrigen seit Jahren eingetreten.
Schließlich frage ich mich, weshalb Andreas Wehr meine Arbeit im Verfassungskonvent nicht richtig darstellt. Einmal abgesehen davon, dass die von ihm angegebenen Artikelnummern falsch sind, hat meine Intervention am 31.5.2003 im Konvent zu Artikelentwürfen, die den Individualrechtsschutz betrafen, auch andere Konventsmitglieder auf den Plan gerufen. Beide Bestimmungen sind daraufhin geändert worden; die Behauptung des Autors, sie seien so geblieben, wie die Entwürfe es vorsahen, ist falsch. Ebenso falsch ist seine Behauptung, in den Bereichen Inneres und Justiz sowie Außen- und Sicherheitspolitik sei keine Individualklage vor dem Gerichtshof der EU möglich. Das Gegenteil ist richtig. In allen Politikbereichen der EU kann jede natürliche oder juristische Person, die von einem Rechtsakt der Europäischen Union unmittelbar und individuell betroffen ist, Individualklage beim Europäischen Gerichtshof erheben.
Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann
Mitglied im Verfassungsausschuss des Europäischen Parlaments
Zu „Wenn der Rechts- ein Holzweg ist“ (ND vom 18.3.)
Dem guten Anliegen der Redaktion, darüber zu informieren, was wirklich in der EU-Verfassung steht, wird Andreas Wehr, Mitarbeiter unserer Fraktion im Europäischen Parlament und Autor der ND-Serie, auch in seinem dritten Beitrag, diesmal zur „EU-Innen- und Rechtspolitik“ (die korrekt Innen- und Justizpolitik heißt) nicht gerecht. Die Leserschaft wird auf den Holzweg geführt, wenn er nur am Rande über dieses Politikfeld informiert und sich stattdessen auf die Schilderung eines einzigen Gesetzes im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, den umstrittenen Europäischen Haftbefehl, beschränkt. Dieser EU-Rahmenbeschluss kam zudem natürlich nicht durch die Verfassung, sondern auf Grundlage des geltenden Nizza-Vertrags zu Stande und hat folglich unmittelbar mit ihren Inhalten nichts zu tun.
In aller Kürze seien hier Politikbereiche genannt, die die EU-Innen- und Justizpolitik umfasst: Asyl- und Einwanderungspolitik, Schutz der EU-Außengrenzen, Visapolitik, Datenschutz, Antidiskriminierung, Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie von Terrorismus und von grenzüberschreitender Kriminalität einschließlich des Menschenhandels mit Frauen und Kindern, Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege, die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen in Zivilsachen. Da alle Bereiche Menschen- und Bürgerrechte berühren, ist es von großer Bedeutung, dass diese durch Aufnahme der Grundrechtecharta in die Verfassung Verfassungsrang erhalten und dass die EU als künftiges Völkerrechtssubjekt per Verfassung verpflichtet wird, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beizutreten. Beides könnte gerade für uns Linke eine Berufungsgrundlage sein im Kampf um die Wahrung individueller Rechte.
Eher beiläufig erwähnt der Autor, dass die wichtigste Veränderung mit der Verfassung bei der Innen- und Justizpolitik darin besteht, dass sie aus der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Gemeinschaftspolitik überführt wird. Was das jedoch bedeutet, wird verschwiegen. Tatsächlich geht es um eine weitgehende Überwindung des Demokratiedefizits in der EU. Mit der Verfassung erhält das Europaparlament endlich die erforderlichen Rechte als Gesetzgeber. Die Regierungen dürfen als Ministerrat künftig nicht mehr allein entscheiden und werden gezwungen, Gesetzgebung öffentlich vorzunehmen. Ferner wird Europol parlamentarischer Kontrolle und der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) unterworfen. Das wird auch für die per Verfassung neu geschaffene Europäische Staatsanwaltschaft und Eurojust gelten. Für diesen Paradigmenwechsel ist die PDS im Übrigen seit Jahren eingetreten.
Schließlich frage ich mich, weshalb Andreas Wehr meine Arbeit im Verfassungskonvent nicht richtig darstellt. Einmal abgesehen davon, dass die von ihm angegebenen Artikelnummern falsch sind, hat meine Intervention am 31.5.2003 im Konvent zu Artikelentwürfen, die den Individualrechtsschutz betrafen, auch andere Konventsmitglieder auf den Plan gerufen. Beide Bestimmungen sind daraufhin geändert worden; die Behauptung des Autors, sie seien so geblieben, wie die Entwürfe es vorsahen, ist falsch. Ebenso falsch ist seine Behauptung, in den Bereichen Inneres und Justiz sowie Außen- und Sicherheitspolitik sei keine Individualklage vor dem Gerichtshof der EU möglich. Das Gegenteil ist richtig. In allen Politikbereichen der EU kann jede natürliche oder juristische Person, die von einem Rechtsakt der Europäischen Union unmittelbar und individuell betroffen ist, Individualklage beim Europäischen Gerichtshof erheben.
Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann
Mitglied im Verfassungsausschuss des Europäischen Parlaments