Darwinismus nach unten – Der Europaabgeordnete der PDS, Helmuth Markov, über den Streit um die EU-Dienstleistungsrichtlinie; Erschienen in „Wirtschaft und Markt“, Aprilausgabe 2005

W&M: Herr Markov, seit Wochen wird heftig um die bürokratisch klingende EU-Verordnung »Dienstleistungsrichtlinie« gestritten. Gehen der Politik die spannenden Themen aus?

Markov: Mit Verlaub, was da so bürokratisch klingen mag, ist alles andere als harmlos und sehr wohl ein heißes Thema für die Politik, das noch sehr viel Sprengkraft erzeugen kann.

W&M: Worum geht es genau?

Markov: Die EU-Kommission will mit der vorliegenden Richtlinie bestehenden Hürden einreißen, die noch immer viele Firmen daran hindern, ihre Dienstleistungen in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union anzubieten.

W&M: Können das die Dienstleister nicht schon jetzt?

Markov: Theoretisch schon, praktisch aber haben es französische Reinigungsunternehmen oder deutsche Dachdecker schwer, ihre Leistungen jenseits der eigenen Landesgrenze und innerhalb der Union anzubieten.

W&M: Was hindert sie praktisch daran?

Markov: In der Praxis stehen sie vor einem Wall aus nationalen Bürokratien und Traditionen, den sie kaum überwinden können. Das meinte jedenfalls schon die alte Kommission vor der Ost-Erweiterung der Europäischen Union. Darum hat sie damals den Entwurf zur Dienstleistungsentsenderichtlinie vorgelegt, über den nun gestritten wird.

W&M: Worum dreht sich der Streit?

Markov: Um die Folgen der Richtlinie. Die einen erwarten wahre Wunderdinge: Wachstum, Hunderttausende neue Jobs und einen Schub für die europäische Integration….

W&M: …und die anderen?

Markov: Die anderen befürchten, dass eine hemmungslose Öffnung der Dienstleistungsmärkte die nationalen Sozial- und Wirtschaftssysteme zerstört und der gnadenlose Wettlauf um sinkende Lohnkosten und niedrige Sozialstandards in die nächste Runde geht.

W&M: Was befürchten Sie?

Markov: Für mich ist diese Richtlinie, die neoliberalen Überzeugungen folgt, ganz einfach Darwinismus nach unten.

W&M: Woran machen Sie das fest?

Markov: Die ursprüngliche Idee des ehemaligen EU-Kommissars Bolkenstein war es, mehr Wirtschaftswachstum zu erzeugen indem man die Dienstleistungen innerhalb der Union frei gibt. Dazu sollte eine Harmonisierung des Rechtsrahmens und der sozialen Standards die Voraussetzungen schaffen, das aber ist gescheitert.

W&M: Worin steckt da der Darwinismus?

Markov: Weil die Länder auf ihr Hoheitsprinzip pochen hat man unter der Flagge des Liberalismus das Herkunftslandprinzip erfunden. Das aber bedeutet, dass jeder Dienstleister überall in der EU tätig werden kann, wenn er nur die Standards desjenigen Landes erfüllt, in dem er seinen Firmensitz hat.

W&M: Ein Niveauangleichung findet also nicht statt. Nur, noch einmal, was hat das mit Darwinismus zu tun?

Markov: Abwarten, wir kommen gleich dahin. Die Folgen des Herkunftslandprinzips, so es denn eingeführt werden würde, wären gerade für Deutschland, aber auch für Frankreich oder die Niederlande verheerend. Denn das Prinzip würde zu einem nie gekannten Lohn- und Sozialdumping innerhalb der Union führen und damit zugleich die Mehrzahl der einheimischen Dienstleister in den so genannten Hochnormländern diskriminieren.

W&M: Was bedeutete das für Deutschland?

Markov: Deutsche Dienstleistungfirmen hätten über kurz oder lang keine Chance mehr am Markt, wenn sie Arbeitsnormen, Tarife und Sozialstandards weiter nach deutschem Recht gestalteten. Sie wären gezwungen, ihren Firmensitz, zumindest per Briefkasten, etwa nach Lettland oder Litauen zu verlegen.

W&M: Mit dem Ergebnis?

Markov: Mit dem Ergebnis, dass der Deutsche Dienstleister seine Angestellten nach lettischen Biligtarifen bezahlen und dementsprechend auch mit Billigangeboten am Markt agieren könnte, auf dem freilich inzwischen auch die Billigkonkurrenz aus den anderen Ländern agiert. Das aber wäre dann der Darwinismus nach unten.

W&M: Hat dieses »darwinistische Prinzip« niemand im vorhinein erkannt?

Markov:Es ist seitens der Kommission gewollt. Die PDS und große Teile der Linken innerhalb des europäischen Parlaments haben frühzeitig vor den Folgen gewarnt und auch dezidiert darauf hingewiesen, dass das Herkunftslandprinzip auch praktisch nicht funktionieren kann.

W&M: Welche praktischen Probleme wären mit dem Prinzip verbunden?

Markov: Das Prinzip ist praktisch nicht durchsetzbar, weil es ein heilloses Rechtschaos erzeugen würde. Bei nun 25 EU-Mitgliedern müssten nach dem Herkunftslandprinzip bei der Verfolgung von Verstößen auch 25 Rechtskonstrukte beachtet werden. Ein lettischer Handwerker könnte nur nach lettischem Recht oder ein Portugiese nur nach portugiesischem Recht belangt werden, wenn er als Dienstleister in einem anderen Land der Europäischen Union agierte.

W&M: Müsste der Kunde dann im Heimatland des Dienstleisters vor Gericht ziehen, wenn der schlechte Arbeit abgeliefert hat?

Markov: Er kann zu Hause klagen, aber meistens gilt in Verträgen das Recht des Leistungserbringers. Die Richter sehen sich allerdings mit 25 verschiedenen Rechtsnormen konfrontiert. Es sind eben viele Dinge ungeklärt.

W&M: Zum Beispiel?

Markov: Es ist zum Beispiel auch vollkommen unklar, wo ein Dienstleister künftig seine Umsatzsteuer zu bezahlen hat – am Firmensitz oder eben dort, wo der Kunde ansässig ist. Es fragt sich auch, wie hoch dann die Sätze wären. Aber das sind schon Detailfragen, die in der aktuellen Diskussion um das Herkunftslandprinzip weitgehend ausgeblendet werden.

W&M: Verfechter der Dienstleistungsrichtlinie wie Bundeswirtschaftsminister Clement erhoffen sich ein Wachstums- und Beschäftigungsschub, weil damit auch deutsche Dienstleister ihre Arbeit leichter im Ausland anbieten könnten. Trügt diese Hoffnung?

Markov: Bei Clement vermischt sich Hoffnung mit Arroganz. Denn was, bitteschön, können deutsche Dienstleister, was Polen, Letten Tschechen, Slowaken oder Esten nicht können. Hinzu kommt, dass sich das Dienstleistungsvolumen nur vergrößert, wenn mehr Nachfrage entstünde. Das aber ist nicht der Fall.

W&M: Sondern?

Markov: Eher besteht die Gefahr, dass zwar ein deutscher Architekt in Warschau ein Haus entwerfen und bauen darf, umgekehrt aber Arbeitsplätze in Berliner Baubetrieben oder Handwerksbetrieben verloren gehen, weil ausländische Billigkräfte auf den heimischen Markt drängen.

W&M: Sind Sie generell gegen eine Öffnung der EU-Dienstleistungsmärkte?

Markov: Natürlich müssen, wenn man die europäische Integration vorantreiben will, auch Dienstleister jenseits ihrer nationalen Grenzen tätig werden können. Das ist ja bereits der Fall. Doch wir brauchen dafür klarere rechtliche Regelungen,
eine vorherige Harmonisierung auf hohem Niveau bezüglich der Qualität, der Sozialrechte, des Umwelt -und Verbraucherschutzes und das Herkunftslandprinzip muss weg.

W&M; Der Bundeswirtschaftsminister will mit Ausnahmeregelungen Fehlsteuerungen verhindern und das Prinzip praktisch tauglich machen. Können Regeln alá dem Entsendegesetz in der Bauwirtschaft die vorhandenen Defizite beheben?

Markov: Das wäre sicherlich ein Versuch, Sozialdumping einzuschränken. Nur ist dieser Versuch bereits am Bau gescheitert, weil dort die so genannte Entsenderichtlinie massenhaft unterlaufen wird. Den Potsdamer Platz in Berlin haben 3 000 selbständige Bauunternehmer aus Portugal oder Großbritannien gebaut und mit diesem rechtlichen Dreh die Richtlinie ad absurdum geführt.

W&M: Angesichts von weit über fünf Millionen Arbeitslosen laufen inzwischen in Deutschland Gewerkschaften, Kanzler und Opposition zumindest gegen das Herkunftslandprinzip Sturm. Wird die Dienstleistungsrichtlinie jetzt gekippt?

Markov: Langsam mal, von Sturm konnte lange Zeit keine Rede sein. Richtig ist, dass jetzt ein Umdenken eingesetzt hat, weil immer mehr die sozialen und ökonomischen Folgen erkennen. Ich fürchte nur der aufgeflammte Protest in Deutschland, Frankreich und anderen EU-Staaten wird den Kommissionspräsidenten nicht zu grundsätzlichen Änderungen bewegen. Insbesondere in Frankreich ist der Druck hoch, es steht das Referendum zur europäischen Verfassung an und Chirac hat sich wohl auch deshalb gegen die Dienstleistungsrichtlinie ausgesprochen.

W&M: Kommissionschef José Manuel Barroso hat ja schon betont, dass er nicht dazu da sei, die 15 alten Mitgliedsstaaten vor den jungen zu schützen. Stürzt der Streit um die Dienstleistungsrichtlinie die größer gewordene Union in ihre erste wirkliche Krise?

Markov: Ich bin kein Hellseher, aber der Konflikt zwischen alten und neuen Mitgliedern ist offensichtlich, weil nun mal die neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten mit ihren vergleichsweise niedrigen Lohn- und Sozialstandards im Zweifelsfall die Profiteure offener Dienstleistungsmärkte wären, nicht aber die dortigen Arbeitnehmer.

W&M Kann Barroso diesen Konflikt verhindern?

Markov: Er allein sicher nicht. Als Kommissionschef ist Barroso, wie er selbst immer betont, dem allgemeinen Interesse Europas verpflichtet. Er kann also gar nicht anders als am Kern der Dienstleistungsrichtlinie festhalten.

W&M: Was wird passieren?

Markov: Kommission und Präsident wollen ihr Gesicht nicht verlieren. Man wird also gemeinsam mit Parlament und Rat Veränderungen besprechen und sie letzlich auch zulassen.

W&M: Welche Veränderungen werden kommen?

Markov: Ich denke, für Pflegedienste und Gesundheitsvorsorge werden schon in den nächsten Wochen Ausnahmeregelungen vorgelegt.

W&M: Also kommt die veränderte Richtlinie noch in diesem Jahr?

Markov: Das müssen Sie nicht mich, das müssen Sie zuallererst den Europäischen Rat fragen.