WTO braucht neuen Kurs
Der alte Kapitän tritt ab. Ein neuer übernimmt das Kommando. Seine Aufgabe wird darin bestehen, den schwer zu manövrierenden Ozeanriesen halbwegs unbeschadet durch die stürmische See zu bringen. Wenn der Franzose Pascal Lamy am 1. September dem Thailänder Supachai Panitchpakdi im Amt des Generaldirektors der Welthandelsorganisation (WTO) nachfolgt, ist völlig offen, wohin die Reise des Handelskolosses wirklich gehen wird. Fest angepeilt ist zumindest der »duftende Hafen« – wie die Chinesen Hongkong nennen –, in dem sich Vertreter der 148 Mitgliedstaaten Mitte Dezember zur 6. WTO-Ministerkonferenz treffen werden. Was ist nun zu erwarten vom neuen Chef und vom bevorstehenden Gipfel?
»Die WTO ist eine mittelalterliche Organisation. Die Entscheidungsverfahren müssen überarbeitet werden.« Mit diesen Worten bewertete der damalige EU-Handelskommissar Lamy am 14. September 2003 das Scheitern der WTO-Verhandlungen im mexikanischen Cancún. Kein Wort verlor er zu der kompromisslosen Haltung der Industrieländer – also auch der Europäischen Union – gegenüber den Anliegen der Schwellen- und Entwicklungsländer, kein Wort zur Ministererklärung, die einen Affront gegenüber den Entwicklungsländern darstellte und mit der ein Scheitern der Konferenz programmiert war. Doch Lamy hatte nicht ganz unrecht: Die WTO steckte in einer Krise. Ihr öffentliches Ansehen hatte erheblich gelitten. Weltweit protestierten Betroffene – unterstützt von Nichtregierungsorganisationen und Linksparteien – gegen die ungleiche Machtverteilung in der Welthandelspolitik.
Nun übernimmt mit Lamy ein ausgemachter Verfechter für die weitere und womöglich beschleunigte Liberalisierung von Märkten die Führung der WTO. Indessen haben die Handelsauseinandersetzungen innerhalb der Organisation nicht etwa abgenommen, sondern sind an Zahl und Härte deutlich angestiegen. Das Selbstbewusstsein der 21 Schwellen- und Entwicklungsländer, allen voran China und Brasilien, die sich in Cancún zu den so genannten G21 zusammenschlossen, hat wie ihre Wirtschaftskraft weiter zugenommen. Ihr Drängen auf die nordamerikanischen und europäischen Märkte ist entsprechend aggressiver als noch vor zwei Jahren. Und wer will es ihnen verwehren? Die Praxis all zu üppiger Agrarexportsubventionen, mit denen Teile der Landwirtschaft in den Industrieländern am Leben gehalten werden, um die heimische vor der billigeren Produktion in den Entwicklungsländern zu schützen, ist gescheitert.
Der Gipfel in Hongkong muss ein Erfolg werden. Der neue WTO-Generaldirektor braucht ihn fürs Image. Für die Welthandelsorganisation selbst würde ein erneutes Scheitern weitaus schwerwiegendere Folgen haben. Zu häufig ist die WTO in ihrer zehnjährigen Geschichte auf Grund gelaufen, wenn es darum ging, Kompromisse zwischen den Mitgliedstaaten und Blöcken auszuhandeln, von denen alle Beteiligten profitieren. So stand denn auch die Vorbereitung der Ministerkonferenz im Mittelpunkt der heute zu Ende gehenden Zusammenkunft des Generalrates der WTO. Gibt es im Dezember keine Einigung, drohen längst überwunden geglaubte bilaterale Abkommen zwischen Staaten und Blöcken wieder den Platz der multilateral agierenden WTO einzunehmen. Gerade vor diesem Hintergrund sollte der jetzige EU-Handelskommissar Mandelson, der in Hongkong für alle EU-Mitgliedsstaaten sprechen wird, seinem Amtsvorgänger bei der Suche nach Kompromissen behilflich sein – indem er sich anders als Lamy in Cancún 2003 auf die Schwellen- und Entwicklungsländer zubewegt, anstatt auf europäischen Forderungen zu beharren. Das Verhandlungsmandat, mit dem Mandelson erneut antreten will, hat bereits 1999 in Seattle maßgeblich zu den bekannten Fehlschlägen beigetragen. Wiederholte Forderungen aus dem Europäischen Parlament nach einem neuen Mandat verhallten allerdings wie so oft in den langen Fluren der Brüsseler Kommission. Der Leck geschlagene Tanker WTO muss endlich Kurs auf einen fairen und nachhaltigen Welthandel nehmen.
Quelle:
Neues Deutschland