Neoliberale Offensive, Artikel in „Neues Deutschland“ vom 10. Juni 2005

Ein Franzose beschrieb das Nein seiner Landsleute zur EU-Verfassung als „demokratische Intifada“. Dann folgten die Niederlande. Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und Zukunftsängste bestimmen das Leben in diesen wie anderen EU-Staaten. Dagegen begehrten die Menschen auf. Mit Recht empfinden sie, dass der Staat sie vor Globalisierung und Entgrenzung nicht schützt und im vereinten Europa Solidarität und Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben. Sie nehmen die EU-Erweiterung als Bedrohung ihrer Existenz wahr und stellen Fragen zur Identität ihrer Nation. Andererseits floriert das Kapital und Multis verbuchen Superprofite – nicht zuletzt dank Binnenmarkt, Währungsunion und Erweiterung. Diese Politik der sozialen Kälte delegitimierte das Projekt Europa. Nationalisten und Rechtspopulisten missbrauchen das. Von all dem wurden die herrschenden Eliten jetzt eingeholt. Man nahm ihnen nicht mehr ab, dass die EU mit dieser Verfassung die Herausforderungen einer globalisierten Welt humaner gestalten könne. Während das Nein gefeiert wird und Befürworter Wunden lecken, schreiten die Marktliberalen zur Tat.

Man könne „von Glück sagen, dass wir nun die Gelegenheit erhalten, die Verfassung noch einmal zu diskutieren und dann auch zu verändern“, erklärte z.B. Hans-Werner Sinn, einer ihrer Vordenker, Chef des Münchner Ifo-Instituts sowie Berater der CDU/CSU-Kanzlerin in spe. Die Verfassung spezifiziere neben einer Wirtschafts- und Währungsunion auch eine „Sozialunion für Europa“ – und die „können wir überhaupt nicht gebrauchen“, meinte er. Das Big Business benötigt auch keine demokratisch verfasste EU, die seiner Profitgier eher Grenzen setzen könnte. Es braucht den selbstgesteuerten Binnenmarkt, den einst Margaret Thatcher maßgeblich vorantrieb, und es kann daher mit den geltenden EU-Verträgen gut leben. Ihm genügt eine Freihandelszone de luxe mit den vier Grundfreiheiten für Kapital, Waren, Dienstleistungen und billigen Arbeitskräften, mit Währungsunion und Stabilitätspakt. Von Anfang an hatten Deutsche Bank, Europäische Zentralbank (EZB) und liberale Vorreiter wie Graf Lambsdorff oder das „Handelsblatt“ heftig beklagt, dass die Verfassung ordnungspolitisch gefährlich sei, zu viele soziale Anspruchsrechte enthalte, die Tarifautonomie stärke und überzogenen Sozialstandards das Wort rede. FDP-Chef Westerwelle warnte gar vor einer „sozialistischen Verfassung“.

Von daher wundert es nicht, dass schon Vorschläge vorliegen, wie die Verfassung zu filetieren sei, um ihre sozialen Inhalte zu entsorgen und den Gesetzen des Markts ungebremst zum Durchbruch zu verhelfen. Ihr müssten alle „Giftzähne“ gezogen werden, fordert etwa Wirtschaftsprofessor Roland Vaubel, Mitglied der European Constitutional Group, die als Alternative zur EU-Verfassung einen neoliberalen Entwurf pur erarbeitet hatte. Zu den „Giftzähnen“ zählt er die Grundrechtecharta und die in der Verfassung fixierte Kompetenz, das Statut der EZB durch Mehrheitsentscheidung zu ändern. Angela Merkel und andere wollen den Stabilitätspakt quasi in Verfassungsrang erheben, um der monetären Stabilität auf Kosten von Investitionen und Beschäftigung wieder mehr Gewicht zu verleihen. Teile der milliardenschweren EU-Regionalförderung sollen zurück in nationale Verantwortung. Auch der durch das Nein gestärkte Tony Blair, dem die Verfassung eh schwer im Magen liegt, wird nach Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli alles daran setzen, der EU sein angelsächsisches Wirtschaftsmodell aufzudrücken, das die komplette Deregulierung des Arbeitsmarkts beinhaltet. Er wird dabei wohl bald mit kräftiger Unterstützung aus Berlin rechnen können.

Gesellschaftlichen Fortschritt in Europa haben sich die Linken auf die Fahnen ihres Nein geschrieben. Doch es droht Rückschritt. Voraussichtlich werden wir genau das bekommen, was wir alle nicht wollen – mehr Neoliberalismus und Marktradikalismus à la Maastricht und Nizza. Es droht ein Durchmarsch neoliberaler Politik, der verhindert werden muss. Die im Verfassungsvertrag enthaltenen Fortschritte müssen gegen diese Offensive verteidigt werden, denn eine sich politisch abwickelnde EU wird in erster Linie zu Lasten der sozial Schwachen gehen.

Dieser Beitrag erschien gekürzt unter „Brüsseler Spitzen“ in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ vom 10. Juni 2005.

Ein Franzose beschrieb das Nein seiner Landsleute zur EU-Verfassung als „demokratische Intifada“. Dann folgten die Niederlande. Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und Zukunftsängste bestimmen das Leben in diesen wie anderen EU-Staaten. Dagegen begehrten die Menschen auf. Mit Recht empfinden sie, dass der Staat sie vor Globalisierung und Entgrenzung nicht schützt und im vereinten Europa Solidarität und Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben. Sie nehmen die EU-Erweiterung als Bedrohung ihrer Existenz wahr und stellen Fragen zur Identität ihrer Nation. Andererseits floriert das Kapital und Multis verbuchen Superprofite – nicht zuletzt dank Binnenmarkt, Währungsunion und Erweiterung. Diese Politik der sozialen Kälte delegitimierte das Projekt Europa. Nationalisten und Rechtspopulisten missbrauchen das. Von all dem wurden die herrschenden Eliten jetzt eingeholt. Man nahm ihnen nicht mehr ab, dass die EU mit dieser Verfassung die Herausforderungen einer globalisierten Welt humaner gestalten könne. Während das Nein gefeiert wird und Befürworter Wunden lecken, schreiten die Marktliberalen zur Tat.

Man könne „von Glück sagen, dass wir nun die Gelegenheit erhalten, die Verfassung noch einmal zu diskutieren und dann auch zu verändern“, erklärte z.B. Hans-Werner Sinn, einer ihrer Vordenker, Chef des Münchner Ifo-Instituts sowie Berater der CDU/CSU-Kanzlerin in spe. Die Verfassung spezifiziere neben einer Wirtschafts- und Währungsunion auch eine „Sozialunion für Europa“ – und die „können wir überhaupt nicht gebrauchen“, meinte er. Das Big Business benötigt auch keine demokratisch verfasste EU, die seiner Profitgier eher Grenzen setzen könnte. Es braucht den selbstgesteuerten Binnenmarkt, den einst Margaret Thatcher maßgeblich vorantrieb, und es kann daher mit den geltenden EU-Verträgen gut leben. Ihm genügt eine Freihandelszone de luxe mit den vier Grundfreiheiten für Kapital, Waren, Dienstleistungen und billigen Arbeitskräften, mit Währungsunion und Stabilitätspakt. Von Anfang an hatten Deutsche Bank, Europäische Zentralbank (EZB) und liberale Vorreiter wie Graf Lambsdorff oder das „Handelsblatt“ heftig beklagt, dass die Verfassung ordnungspolitisch gefährlich sei, zu viele soziale Anspruchsrechte enthalte, die Tarifautonomie stärke und überzogenen Sozialstandards das Wort rede. FDP-Chef Westerwelle warnte gar vor einer „sozialistischen Verfassung“.

Von daher wundert es nicht, dass schon Vorschläge vorliegen, wie die Verfassung zu filetieren sei, um ihre sozialen Inhalte zu entsorgen und den Gesetzen des Markts ungebremst zum Durchbruch zu verhelfen. Ihr müssten alle „Giftzähne“ gezogen werden, fordert etwa Wirtschaftsprofessor Roland Vaubel, Mitglied der European Constitutional Group, die als Alternative zur EU-Verfassung einen neoliberalen Entwurf pur erarbeitet hatte. Zu den „Giftzähnen“ zählt er die Grundrechtecharta und die in der Verfassung fixierte Kompetenz, das Statut der EZB durch Mehrheitsentscheidung zu ändern. Angela Merkel und andere wollen den Stabilitätspakt quasi in Verfassungsrang erheben, um der monetären Stabilität auf Kosten von Investitionen und Beschäftigung wieder mehr Gewicht zu verleihen. Teile der milliardenschweren EU-Regionalförderung sollen zurück in nationale Verantwortung. Auch der durch das Nein gestärkte Tony Blair, dem die Verfassung eh schwer im Magen liegt, wird nach Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli alles daran setzen, der EU sein angelsächsisches Wirtschaftsmodell aufzudrücken, das die komplette Deregulierung des Arbeitsmarkts beinhaltet. Er wird dabei wohl bald mit kräftiger Unterstützung aus Berlin rechnen können.

Gesellschaftlichen Fortschritt in Europa haben sich die Linken auf die Fahnen ihres Nein geschrieben. Doch es droht Rückschritt. Voraussichtlich werden wir genau das bekommen, was wir alle nicht wollen – mehr Neoliberalismus und Marktradikalismus à la Maastricht und Nizza. Es droht ein Durchmarsch neoliberaler Politik, der verhindert werden muss. Die im Verfassungsvertrag enthaltenen Fortschritte müssen gegen diese Offensive verteidigt werden, denn eine sich politisch abwickelnde EU wird in erster Linie zu Lasten der sozial Schwachen gehen.

Dieser Beitrag erschien gekürzt unter „Brüsseler Spitzen“ in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ vom 10. Juni 2005.