Sozial ist modern, sozial ist wirtschaftlich

André Brie, 11. Januar 2005, Artikel zur Europäischen Sozialpolitik für EPC

Die Freiheitsstatue vor der alten New Yorker Hafeneinfahrt misst mit dem Sockel fast einhundert Meter. Die Göttin steht auf den zerbrochenen Ketten der Sklaverei und hebt mit der rechten Hand die Fackel der Freiheit empor, in der linken trägt sie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Als Geschenk Frankreichs an die USA ist sie ist zugleich Ausdruck für die gegenseitigen Einflüsse von amerikanischem Unabhängigkeitskrieg und französischer Revolution sowie der beiden ersten großen Freiheits- und Menschenrechtserklärungen, der „Virginia Bill of Rights“ (1776) und der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ (1789). Symbolkraft und Ikonographie der Freiheitsstatue sind kaum steigerungsfähig. Mehr als zweihundert Jahre später hat die Idee (allerdings nicht unbedingt die Realität) der Freiheit und der Menschenrechte gesiegt.

Vor dem Europäischen Parlament in Brüssel steht ebenfalls eine Statue, ebenso eine Frau darstellend, die ebenfalls einen Arm empor reckt. Der Unterschied ist nur: Sie ist mit Sockel vielleicht drei Meter hoch, duckt sich in den Schatten der Gebäude links und rechts der Rue Wiertz, so dass ihre Existenz selbst einigen Abgeordnete des Parlaments noch nicht aufgefallen ist, und in ihrer Hand hält sie kein Symbol einer großen gesellschaftsgestaltenden und identitätsstiftenden Idee, sondern das Euro-Zeichen.

Es macht wesentlich das europäische Dilemma aus, dass die ursprünglichen großen Impulse und Ziele der europäischen Integration (Frieden, Stabilität, Überwindung von Nationalismus) realisiert, aber damit auch als Integrationskräfte zu großen Teilen erschöpft sind. Der vorliegende Verfassungsvertrag war trotz der weitgehend aufgenommenen Grundrechtecharta und anderer Fortschritte nicht in der Lage, dieses für die Perspektive der Integration bedrohliche Defizit zu beseitigen.

Die europäische Integration und Einigung ist in ihrem zivilisatorischen und historischen Anspruch zweifellos mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Großen Französischen Revolution vergleichbar. Aus meiner Sicht hätte die Verfassung dem Ausdruck geben und eine dauerhafte, starke Identifizierung der europäischen Bürgerinnen und Bürger mit der Europäischen Union erlauben müssen. Eine Auseinandersetzung mit dieser (aus meiner Sicht) verpassten Chance ist hier nicht möglich. Ich erlaube mir diesen Exkurs aus einem anderen Grund: Die Ziele von Frieden und Freiheit bleiben dauerhafte Aufgaben der europäischen Integration, einen neuen identitätsstiftenden Impuls könnte die europäische Idee aber vor allem aus dem Gedanken der sozialen Kohäsion und Solidarität gewinnen.

Der vielgestaltige europäische Wohlfahrtsstaat hat sich in widerspruchsvollen sozialen und politischen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts herausgebildet. Seine ökonomische Voraussetzung war die Überschreitung der vormodernen lokalen Märkte durch die damals neuen technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen und die Herausbildung überregionaler, nationaler Märkte, Wirtschaftskreisläufe, Volkswirtschaften. Deren politische Folge und der politische Rahmen für die Durchsetzung sozialstaatlicher Regulierung war der moderne (National-)Staat. Auch dort, wo – wie in den USA die sozialstaatlichen Elemente rudimentär blieben oder soziale Absicherung primär über die lebenslange Arbeitsplatzgarantie in den großen Unternehmen (Japan) gewährleistet wurde, waren steigende Massenkaufkraft und –nachfrage entscheidende Grundlage wirtschaftlichen Wachstums.

Ökologische Vernunft gebietet kategorisch, materielles Ressourcenwachstum zu beenden und umzukehren, aber moderne Volkswirtschaften sind ohne wachsende Massenkaufkraft und öffentliche Investitionen nicht denkbar. Dieser Aspekt wird in den vorherrschenden aktuellen wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten um wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitische Modernisierungsprojekte praktisch vollständig ausgeblendet. Stattdessen werden betriebswirtschaftliches Denken (sinkende Kosten, Standortwettbewerb, Deregulierung, Zurückdrängung des öffentlichen Bereiches) sowie die durchaus realen Probleme der demografischen Entwicklung (primär als Kostenfaktor der sozialen Sicherungssysteme) und der wirtschaftlichen Globalisierung (als Kostenwettbewerb) verabsolutiert.

Diese Politik hat vor allem in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten bereits zu einem deutlichen Umschwung in der Primärverteilung (Rückgang der Lohnquote, Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Profitrate der Unternehmen) geführt, ohne die versprochene neue wirtschaftliche Dynamik auszulösen. Obwohl die propagierten positiven Ergebnisse für Wachstum, Beschäftigung, öffentliche Finanzen ausblieben, gilt ihre Fortsetzung als Nonplusultra zeitgemäßer Wirtschaftspolitik.

Auch der „Lissabon-Prozess“ der Europäischen Union wird von diesem Herangehen beherrscht. Es ist daher nur folgerichtig, dass fast fünf Jahre nach den Lissaboner Beschlüssen trotz aller Kostensenkungen in den öffentlichen und sozialen Bereichen Europa weit vom erklärten Ziel entfernt ist, bis 2010 die dynamischste Wirtschaftsregion der Welt zu werden. Fehlende private und öffentliche Kauf- und Investitionskraft kann heutzutage auch durch Exporterfolge auf dem Weltmarkt nicht kompensiert werden, zumal durch die vorangeschrittene internationale Arbeitsteilung ein Großteil der Wirtschaftsschöpfung der Exportwaren außerhalb der EU bzw. ihrer Mitgliedsländer realisiert wird. Die wirtschaftspolitische Realität hat mit der Lissabon-Vision wenig zu tun:

Am in der europäischen Debatte immer wieder verwendeten Beispiel USA werden die geringeren öffentlichen Kosten für soziale Sicherung, die sozialpolitische Deregulierung, die geringe Rolle der Gewerkschaften, die weitreichende Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse und ihre geringere soziale Qualität als Erfolgsursachen hervorgehoben. Eine grundlegende andere Differenz zwischen der Wirtschaftspolitik in den USA und in Europa wird dagegen nicht diskutiert und vor allem in der Lissabon-Strategie nicht berücksichtigt.

Oskar Lafontaine diesen entscheidenden Denkfehler der gegenwärtigen europäischen Wirtschaftsphilosophie bereits vor Jahren hingewiesen: „Merkwürdig ist, dass die Amerikaner nicht auf die Idee kommen, ihre Wirtschaftspolitik von Europa abhängig zu machen. Die Außenhandelsverflechtung der Volkswirtschaften der USA, der EU und Japans liegt bei jeweils zehn Prozent. Das heißt, die Musik wird immer noch auf dem Binnenmarkt gemacht.“

Wesentliche Rahmenbedingungen für entscheidende Politikbereiche werden heute auf der europäischen Ebene definiert. Die Geldpolitik ist für 12 Staaten bereits vollständig europäisiert, die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten durch den „Stabilitätspakt“ weitgehend vorbestimmt und auch der europäische Binnenmarkt wird durch die Vorgaben von Kommission und Rat gestaltet. Statt bloß abzuwarten, bis die Konjunktur in den USA wieder anspringt und die EU-Wirtschaft mitzieht, muss Europa sich auf seine eigenen Potenziale besinnen.

Unter den Bedingungen der Globalisierung und anderer gravierender Wandlungen ist der Nationalstaat (allein) tatsächlich kein ausreichender politischer und wirtschaftlicher Handlungsraum mehr. Die Europäische Union dagegen könnte der Rahmen für die Erhaltung und moderne Weiterentwicklung des Sozialstaats sein und aus diesem Anspruch ebenso eine neue, nachhaltige Legitimierung bei den Bürgerinnen und Bürgern wie ein erneuertes, wirksames Integrationsziel erhalten. Meiner Meinung nach ist eine starke und direkte (europäische) soziale Dimension der Unionspolitik erstens eine entscheidende, gegenwärtig wahrscheinlich: die entscheidende Bedingung für die Vertiefung der Integration und die Abwehr der alles andere als geringen aktuellen Gefahr der Desintegration (der mehr oder minder weit reichenden Ersetzung der Integration durch eine europäische Freihandelszone) und zweitens für den wirtschaftlichen Erfolg der EU und ihrer Mitgliedsländer. Anders gesagt: Die zunehmende Verengung der europäischen Politik und der Wirtschaftspolitiken in den europäischen Staaten auf neoliberale, marktdominierte Konzepte halte ich nicht nur für unsozial, sondern für integrationsgefährdend und wirtschaftlich unvernünftig, falsch und kontraproduktiv. Ihre Begründung mit dem Beispiel der US-Wirtschaft ist nur betriebswirtschaftlich überzeugend, erweist sich jedoch makroökonomisch – um das so offen zu sagen – als töricht.

Die Wirtschaftspolitik in Euroland könnte sich viel stärker auf die europäische Binnenwirtschaft und Binnennachfrage konzentrieren, ohne negative Folgen wie eine sinkende Wettbewerbsfähigkeit im Weltmarkt oder einen wachsenden Zustrom „ausländischer“ Exporte fürchten zu müssen. Die Nachfrage der einheimischen Unternehmen und Privathaushalte kann sich bis zu 92 % in Produkte und Dienstleistungen made in Europe umsetzen. Wird der osteuropäische Raum in diese makroökonomische Kooperation einbezogen, so gewinnt Europa tatsächlich jene wirtschaftspolitische Souveränität zurück, die seine Nationalstaaten im Zuge neoliberaler Globalisierungsstrategien zu einem guten Teil verloren haben.

Europa könnte sich deshalb mit einer binnenwirtschaftsorientierten Industrie-, Struktur-, Umwelt-, Beschäftigungspolitik auf einen ökologisch tragfähigen Entwicklungspfad begeben. Im Zentrum steht dabei eine moderne Regionalisierungspolitik zur Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe und des ökologischen Wirtschaftens. Nachhaltige Regionalisierungspolitik zielt auf einen höheren regionalen Beitrag der Versorgung mit Energie, Lebensmitteln, Freizeit, Kultur, Tourismus, Verkehr etc. Sie stellt neue Kooperations- und Finanzierungsbeziehungen zwischen öffentlicher Wirtschaft, Privatunternehmen und einem gestärkten Sektor zwischen Markt und Staat her.

Die EU könnte die Unternehmens- und Vermögensbesteuerung harmonisieren, mit einem föderalen Finanzausgleich die Handlungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates wiederherstellen und Einkommens- und Entwicklungsunterschiede einebnen. Euroland bietet sogar das Potenzial für eine gleichgerichtete, aktive Haushaltspolitik all seiner Mitgliedstaaten als Alternative zur Sparpolitik der neoliberalen Ära. Jeder von der öffentlichen Hand einigermaßen klug investierte Euro zieht wegen der Größe des europäischen Binnenmarkts etwa 3 € an privaten Investitionen und Konsumentenausgaben nach sich. Die öffentlichen Investitionen wären damit bei einem durchschnittlichen effektiven Steuerniveau von 30 % weitgehend selbstfinanzierend. Die expansive Haushaltspolitik kann in mittlerer Sicht also ohne neue Verschuldung gestaltet werden.

Die EU braucht dringend einen alternativen gesamtwirtschaftlichen policy mix:
 eine wirtschaftspolitische Kooperation zwischen der Europäischen Zentralbank, der Wirtschafts- und Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten und der Lohnpolitik,
 eine entspanntere Geldpolitik,
 eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik,
 eine binnenwirtschaftsorientierte Strategie für Nachhaltigkeit und
 eine Haushaltspolitik, die öffentliche Investitionen, Forschung und Bildung sowie die Entwicklung der Humanressourcen stärkt,
 eine gemeinsame soziale Dimension.

Ansatzpunkte dafür gibt es in der europäischen Politik durchaus. Die „Lissabon-Strategie“ der EU erhebt beispielsweise den Anspruch, Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik kohärent aufeinander abzustimmen. Seit dem EU-Gipfel von Lissabon (2000) wird deshalb regelmäßig die Frühjahrstagung des Europäischen Rates diesen wirtschaftlichen und sozialen Fragen gewidmet und durch einen „Synthesebericht“ der Europäischen Kommission vorbereitet. Dabei wird eine Vielzahl von Koordinierungsprozessen auf EU-Ebene mit in die Betrachtung einbezogen, die teils im EU-Vertrag aufgeführt sind und teils als auf der Methode der offenen Koordinierung beruhen. Ihnen fehlt jedoch erstens eine größere Verbindlichkeit im Sinne der früheren Vorstellungen Delors. Dabei ginge es mir nicht um einen europäischen Superstaat, sondern um die Nutzung jener Möglichkeiten für die Wiedergewinnung politischer, wirtschafts- und sozialpolitischer Handlungsfähigkeit, die auf nationaler Ebene angesichts der Internationalisierungsprozesse nicht mehr ausreichend gegeben ist. Zweitens sind die sozial-, beschäftigungs- und umweltpolitischen Orientierungen (auch im Verfassungsvertrag) der Wettbewerbspolitik untergeordnet. Das sich abzeichnende „Neue Europäische Sozialmodell“ ist daher keine Erneuerung und Weiterentwicklung der (unterschiedlichen) europäischen Wohlfahrtsstaatsmodelle, sondern der europäische Beitrag zu ihrem Abbau (der euphemistisch Umbau genannt wird). Der bereits deutlich angeschlagene keynesianische Wohlfahrtsstaat wird auf der Grundlage der von der neoliberalen Revolution eingeleiteten Entwicklungen abgewickelt. Obwohl die Leitideen der „Modernisierung des Sozialstaats“ europaweit die selben sind, dürfte die Umsetzung nicht nur Konvergenz, sondern auch weitere Differenzierung der nationalen „Sozialstaaten“ mit sich bringen. Seine nationalstaatliche „Umsetzung“ ist meist noch „pfadabhängig“ an die nationale Wohlfahrtsstaatstradition angekoppelt, wie sie sich historisch entwickelt hat. Neue „Systemlogiken“ (Kapitaldeckungsprinzip bei der Rente, Liberalisierung und Wettbewerb im Gesundheitswesen und der Langzeitpflege, private Arbeitsvermittlung usw. ) werden mit den zurechtgestutzten Überresten der alten Strukturen verflochten.

Einerseits setzt sich so mehr und mehr ein durchlöcherter Sozialschutz durch, wie wir ihn vom liberalen Wohlfahrtsstaat bereits kennen. Doch die „Modernisierung des Sozialstaats“ geht deutlich über das bekannte liberale Modell hinaus. Die Teilprivatisierung und Individualisierung des Rentensystems (kapitalgedeckte Säulen) macht das vormalige „Solidarsystem“ zu einem Vehikel der Spekulation und einem Spielball der Finanzmärkte. Das Gesundheitssystem wird zunehmend von Wettbewerbsimperativen gesteuert.

Während der Sozialstaat (und erst recht der erweiterte keynesianische Wohlfahrtsstaat) einst dem Kapitalismus Zügel anlegte, um ihn vor sich selbst zu schützen, läuft der Film jetzt rückwärts ab: Entfesselung der Marktkräfte, unterstützt durch staatliche Sozialpolitik. Liberale Modernisierung, ich erlaube mir es so zu sagen, droht so der Weg zurück in den Laissez-Faire-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts zu werden.

Um jedoch zu den Gedanken meiner Einleitung zurückzukehren: Viele betrachten die Auseinandersetzung um den Sozialstaat fast ausschließlich unter der Brille der „sozialen Gerechtigkeit“. Diese ist meiner Meinung nach natürlich wichtig. Doch: It´s the economy, stupid.

Der frühere deutsche Finanzstaatssekretär Heiner Flassbeck hat eine nur scheinbar bittere, aber, wenn man sie akzeptiert, ausgesprochen produktive Wahrheit ausgesprochen: „Die Auseinandersetzung um Gerechtigkeit, das soziale Netz und Solidarität in der Gesellschaft ist vollkommen sinnlos in Zeiten hoher und steigender Arbeitslosigkeit. In solchen Zeiten gilt jede Maßnahme, die 100 000 Arbeitsplätze schafft, als sozial; jeder Verzicht auf Lohn, auf soziale Absicherung oder auf Versicherungsschutz, der andere in Lohn und Brot bringt, als in höchstem Maße solidarisch.“

Es kommt ja nicht von ungefähr, dass in den letzten 25 Jahren auch große Teile der Gewerkschaften die allgemeine Propaganda glaubten, dass alle nun den „Gürtel enger schnallen“ und sparen müssten – aus Sicht der Gewerkschaften nur halt „sozial gerecht“, so dass die Unternehmer, die hohen Einkommen und Vermögen eben auch etwas gerupft werden. Der Hintergrund ist die verfestigte und anhaltend hohe Massenerwerbslosigkeit, der offenbar nicht beizukommen sei. Der Streit geht nicht mehr um die Ökonomie, sondern wer im Namen der „Solidarität“ welchen Beitrag zum allgemeinen „Sparen“ zu leisten habe.

Aus ökonomischer und nicht zuletzt aus gesellschaftspolitischer Sicht stellt sich jedoch folgende Frage: Wenn sowohl der Staat als auch die privaten Haushalte sich gleichermaßen mit Ausgaben zurückhalten, also „sparen“, wie sollen dann die Unternehmen (ganz gleich, wem sie gehören) den Absatz ausweiten und wieder mehr investieren können? Versuchen nun einige Unternehmen, ihre Lage durch stetige „Kostensenkungen“ (bei Löhnen und Lohnnebenkosten usw.) zu verbessern, so verschlechtern sie nur die Lage anderer Unternehmen und das Nachfragepotenzial der privaten Haushalte. In der jeweils nächsten Runde hat der Staat weniger Steuereinnahmen und höhere Ausgaben, weil es mehr Erwerbslose gibt. Aus der angestrebten Haushaltskonsolidierung und dem Schuldenabbau wurde wieder nichts – neue Löcher müssen gestopft werden. Dieser Zyklus ist als „Schuldenparadox“ bekannt. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht führt diese Politik sowohl sozial wie wirtschaftlich nur zu einer Spirale nach unten, bei der am Ende alle verlieren. Sie ist nicht nur sozial ungerecht, sondern gerade wirtschaftspolitisch verfehlt. Das laufende Volkseinkommen bleibt so weit unter den Möglichkeiten, die mit einer anderen Wirtschafts- und Finanzpolitik erzielt werden könnten.

In der EU ist Sozialstaatlichkeit erst einmal nur auf der nationalstaatlichen Ebene ausgebildet, und dies höchst unterschiedlich. Unter dem Dogma der Stärkung ihrer „Wettbewerbsfähigkeit“ ist eine harte Regimekonkurrenz der nationalen Sozialstaaten etabliert worden. Die Mitgliedstaaten sind stets versucht, durch den Abbau von Sozialleistungen Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Deshalb geht es auf europäischer Ebene als erstes darum, ein verstärkten Sozialdumpings in der erweiterten Europäischen Union zu unterbinden.

Dafür ist die Vereinbarung eines sozialen Stabilitätspakts nötig. Dieser baut auf der einfachen Tatsache auf, dass es einen sehr engen Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Entwicklungsniveau eines Landes (gemessen als Bruttoinlandsprodukt pro Kopf) und seiner Sozialleistungsquote (dem Anteil der gesamten Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt) gibt.

Im Rahmen eines sozialen Stabilitätspakts würden zunächst die Sozialleistungsquoten der 25 EU-Mitgliedstaaten erfasst und jeweils Länder mit ähnlicher Sozialleistungsquote in einer Gruppe („Korridor“) zusammengefasst. Eine Abweichung vom Ausgangswert nach unten hätte für die betroffenen Länder ein Konsultationsverfahren und gegebenenfalls Sanktionen zur Folge. Ein Abweichen nach oben wäre jederzeit möglich und würde ein Anheben des Korridors bewirken. Auf diese Weise würde die soziale an die wirtschaftliche Entwicklung gekoppelt. Die schwächer entwickelten Volkswirtschaften in der EU würden durch diese Form der sozialpolitischen Regulierung nicht überfordert. Je mehr sie im wirtschaftlichen Entwicklungsniveau aufschließen, umso mehr werden sich die Sozialleistungsquoten in der EU annähern. Den wirtschaftlich stärkeren Mitgliedstaaten wird dadurch der Weg zum Sozialdumping (unterdurchschnittliche Sozialleistungsquoten im Vergleich zum Einkommensniveau) verschlossen.

Die EU kann und muss aber weitaus mehr tun, als nur Sozialdumping zu verhindern. Sie muss künftig verbindliche quantitative und qualitative sozialpolitische Vorgaben setzen: zum Beispiel zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes, zum Mindestniveau einer sozialen Grundsicherung, zu europäischen Mindestlohnstandards, zur Überwindung von Armut und sozialer Ausgrenzung, von Wohnungslosigkeit und Analphabetismus. Die Mitgliedstaaten müssen im Rahmen dieses Verfahrens zu konkreten Maßnahmeprogrammen verpflichtet werden können, deren Umsetzung kontinuierlich ausgewertet und überwacht wird. Die EU kann diese Maßnahmeprogramme durch europäische Förderung ergänzen. Damit würde die europäische Sozialpolitik beginnen, eine eigenständige Wirkung zu entfalten, die über das bloße Sammeln von Informationen, die Vereinbarung von Indikatoren und den Vergleich „bester Praktiken“ hinausgeht.

Perspektivisch stellt sich auch im Bereich der Sozialpolitik die Frage nach der „Finalität der europäischen Integration“ – auf welches Ziel soll sie abschließend hinauslaufen? Muss nicht im Rahmen einer föderativen oder konföderalen Europäischen Union auch eine europäische Sozialunion geschaffen werden („Sozialstaat Europäische Union“), wie es die antifaschistischen Europabewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg gefordert hatten? Ist es sinnvoll, auf EU-Ebene einheitliche Normen für die Leistungsvoraussetzungen, die Leistungshöhe, spezifische Leistungszuschläge, Leistungsbegrenzungen sowie Anpassungsregeln festzulegen? Dies könnte z. B. für Kernbestandteile der sozialen Sicherung avisiert werden: etwa für eine soziale Grundsicherung, für Alters- und Erwerbsunfähigkeitsrenten, die Arbeitslosenunterstützung, Familienleistungen und Gesundheitsleistungen. Damit würden sich die vielfältigen praktischen Probleme mit der bisherigen „Koordinierung der Sozialschutzsysteme“ im Bereich der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit von Personen erledigen.

Der Schlüssel zu einer solchen Lösung liegt darin, relative Bezugsgrößen zu wählen: z.B. im Bereich einer europäischen sozialen Grundsicherung ein Leistungsniveau von 60 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens des Mitgliedstaats, in dem eine Person sich niederlässt. Damit würde es keine Anreize für einen „Sozialtourismus“ geben – z.B. durch „Mitnahme“ etwa der relativ großzügigen sozialen Grundsicherung der Niederlande bei einer Niederlassung etwa in Regionen mit niedrigen Lebenshaltungskosten wie in Apulien oder der Estremadura, wenn etwa die nationalstaatliche soziale Grundsicherung europaweit „transportabel“ gemacht würde. Die ökonomische Leistungsfähigkeit des jeweiligen Niederlassungs-Mitgliedstaats würde durch eine solche Wahl relativer Bezugsgrößen entsprechend berücksichtigt.

Diese Debatte klingt heutzutage sicher noch nach weit entfernter Zukunftsmusik. Doch wenn man etwa verhindern will, dass über den Weg einer derzeit diskutierten erhöhten „EU-weiten Patientenmobilität“ der Weg für einen EU-Binnenmarkt für Gesundheitsdienste frei geschlagen wird, welcher dann den nationalstaatlichen solidarischen Gesundheitssystemen zusätzlich die schon durch die „Gesundheitsreformen“ schwer angeschlagene Basis schrittweise entziehen würde, dann muss man auch über europäische Lösungen nachdenken. Europäische Harmonisierungen scheinen mir jedenfalls sozial und wirtschaftlich wesentlich konstruktiver als die deregulierte Durchsetzung eines absoluten Herkunftslandprinzips wie im Richtlinienvorschlag der EU-Kommission für die Dienstleistungen.

Meiner Überzeugung nach geht es um nicht mehr und nicht weniger als zu begreifen, dass das betriebswirtschaftlich so überzeugende wirtschaftsliberale Axiom der sozialen und Lohnkostensenkung gesellschaftlich und makrowirtschaftlich in die Sackgasse führt. Der Sozialstaat, seine Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung (die durchaus libertäre Ansprüche einschließen und Individualisierungs- und andere soziale und kulturelle Ausdifferenzierungsprozesse berücksichtigen muss) ist kein keynesianistischer, durch neue Entwicklungen überholter und wirtschaftlich gefährlicher Anachronismus, sondern modern und wirtschaftlich vernünftig. So könnte Europa nachhaltige wirtschaftliche Dynamik ebenso gewinnen wie eine gemeinschaftsstiftende Identität für seine Bürgerinnen und Bürger.