Mehr Demokratie wagen – Artikel von Sylvia-Yvonne Kaufmann, MdEP und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments im Neuen Deutschland

Artikel von Sylvia-Yvonne Kaufmann, MdEP und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments im Neuen Deutschland

Die meisten europäischen Linksparteien, darunter die PDS, lehnen das erste europäische Grundgesetz ab – aus unterschiedlichsten Gründen. Sie reichen von der Kritik am Neoliberalismus und an der Militarisierung der EU, über ihre Charakterisierung als „Superstaat“ bis hin zur völligen Ablehnung der EU. Einige plädieren sogar für den EU-Austritt ihres Landes. Das hat die PDS nie gefordert. Von Deutschland gingen zwei verheerende Weltkriege aus. Allein dies gebietet, dass das größer gewordene Deutschland fest im europäischen Integrationsprozess verankert bleibt. Auch unsere Nachbarn wollen das, und es ist der Wille der PDS wie auch aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien. Daran darf nicht gerüttelt werden.

Die europäische Integration vollzieht sich aber nicht im Niemandsland. Sie hat eine konkrete Gestalt – die Europäische Union, und die Ablehnung der Verfassung führt letztlich auch zu einem Nein zur real existierenden EU, in der bereits über 450 Millionen Menschen friedlich zusammenleben. Sie ist ein freiwilliger Verbund kapitalistischer Staaten, die ihm schrittweise nationale Souveränitätsrechte übertragen. Die EU verkörpert ökonomisch Neoliberalismus und politisch Machtentfaltung – aber ebenso zivilisatorischen und sozialen Fortschritt. Genau in diesem Spannungsbogen bewegt sich die Verfassung. Ihr Fundament bilden die dort verankerten gemeinsamen Werte. Sie reichen von der Achtung der Menschenwürde als höchstem Gut bis hin zu Gerechtigkeit und Solidarität. Programmatisch teilen die Linksparteien diesen Wertekanon. Sie streben eine Gesellschaft an, in der diese Werte verwirklicht werden.

Das Entstehen der Verfassung ist mit einem Novum in der Integrationsgeschichte verbunden. Sie kam nicht im Geheimen durch einen „Überraschungscoup“ der Herrschenden daher. Sie entstand vielmehr in einem mehrjährigen öffentlichen Prozess. Sowohl dem Grundrechte- als auch dem Verfassungskonvent gehörten mehrheitlich Abgeordnete an. Fast alle relevanten politischen Kräfte aus Politik und Wirtschaft versuchten ihre Positionen durchzusetzen. Viele Nichtregierungsorganisationen, insbesondere Gewerkschaften, brachten sich mit konkreten Vorschlägen ein. Trotz unterschiedlichster Vorstellungen über die Zukunft der Union gelang es, einen breiten staatenübergreifenden Konsens zu erreichen und ihre bislang umfassendste Reform auf den Weg zu bringen. Meine Erfahrung als Mitglied beider Gremien ist: ein geeintes Europa käme nie zustande, wenn jede politische Richtung ihre eigenen Vorstellungen zum Nonplusultra erhebt. Es wurde der erreichbare Maximalkompromiss erzielt, und zwar nicht nur zwischen 25 Staaten, sondern vor allem zwischen denen, die „mehr Europa“ wollen und jenen, die auf die Nationalstaaten setzen oder nach Renationalisierung streben. Diese Verfassung ist der neue Gesellschaftsvertrag aller EU-Staaten. Zutreffend spricht das Ständige Forum der europäischen Zivilgesellschaft von einem „neuen Sozialvertrag“ in Europa.

Wegen ihres Kompromisscharakters enthält die Verfassung Mängel und Widersprüche. So ist einerseits neu von „sozialer Marktwirtschaft“ die Rede, während andererseits wie bisher von „offener Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ gesprochen wird. Inakzeptabel sind zweifelsfrei all jene Bestimmungen, die Aufrüstung und Militärinterventionismus befördern. Hier sind Widerstand, vor allem aber überzeugende friedenspolitische Alternativen gefragt. Dabei können wir uns darauf stützen, dass die gesamte Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU erstmals ausdrücklich der Einhaltung der Grundsätze der UN-Charta unterworfen wird, etwa der „mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare(n) Androhung oder Anwendung von Gewalt“.

Scheitert die Verfassung, würden davon nicht die Bürgerinnen und Bürger, sondern vor allem Nationalisten und Rechtsextreme profitieren. Denen dürfen wir nicht in die Hände spielen. Eine politisch geschwächte EU würde außerdem das Hegemoniestreben der Bush-Administration stärken, das durch Präventivkriege und Unilateralismus den Frieden in der Welt dramatisch bedroht. Auch das kann nicht unser Interesse sein.

Die PDS will eine soziale EU. Dafür bietet die Verfassung neue Spielräume. Wir haben die Maastrichter Wirtschafts- und Währungsunion und alle Nachfolgeverträge abgelehnt, weil damit der Neoliberalismus in Beton gegossen wurde. Die Verfassung schafft nun Voraussetzungen, ihn wieder aufzubrechen. Mit ihr ist es möglich, die Globalisierung in Europa humaner zu gestalten und eine sozial-ökologische Marktwirtschaft mit geordnetem Wettbewerb als Alternative zur Shareholder-Value-Ökonomie zu entwickeln. Europäischer Gewerkschaftsbund und DGB sehen in der Verfassung eine „klare Verbesserung“ für die arbeitenden Menschen. Linke Politik kann sich auf sie stützen – im Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau und Lohndumping.

Aus der Verfassung können wir neue Handlungsoptionen entwickeln, und zwar zur Verbesserungen der Lebensbedingungen der Menschen – sei es nun vor Ort in der Kommune, im eigenen Land oder in Europa. Die PDS wurde als Partei der sozialen Gerechtigkeit ins Europäische Parlament wiedergewählt, und die Gerechtigkeit ist, wie sogar Konservative eingestehen, die zentrale Zukunftsfrage in Europa. Statt mit der Verfassung zu hadern, sollten wir mehr Demokratie wagen. Warum bereiten wir uns eigentlich nicht schon jetzt darauf vor, das neu verankerte Recht für europäische Bürgerbegehren offensiv aufzugreifen? Es dürfte doch beispielsweise nicht zu schwierig sein, gemeinsam mit verschiedenen NGO und sozialen Bewegungen eine Million Unterschriften in mehreren Mitgliedstaaten für ein Volksbegehren zu mobilisieren, etwa um die EU-Kommission aufzufordern einen Gesetzesentwurf zur Einführung der Tobinsteuer vorzulegen, um endlich die riesigen Börsenspekulationsgewinne zu besteuern. Sogar auf einen Beschluss des belgischen Parlaments könnten wir uns dabei stützen.