Die Gewalt ist allgegenwärtig

André Brie über die Sicherheitslage in Irak

ND: Sie sind gerade von einer viertägigen Reise nach Bagdad und in die Provinz Diyala zurückgekehrt. Was hat Sie nach Irak geführt?

Brie: Das Land steht im Verfassungsprozess. Für Dezember sind Wahlen angekündigt. Daher wollte ich mich gemeinsam mit dem portugiesischen Sozialdemokraten Paulo Casaca sachkundig machen.

Die Meldungen über blutige Anschläge reißen nicht ab. Wie haben Sie die Situation im Land erlebt?

Es war gespenstisch, was die Iraker an Sicherheitsvorkehrungen für uns organisieren mussten. Wir waren nur in Autos mit verhängten Scheiben unterwegs und konnten praktisch keine Minute auf der Straße stehen und fotografieren. Die Gewalt ist allgegenwärtig. Kurz nachdem wir am Dienstag den kleinen Ort Khalis in der Provinz Diyala verlassen hatten, wurden dort 13 Menschen ermordet.

Wie geht die Bevölkerung mit der täglichen Gewalt um?

Selbst durch eigenes Erleben lässt sich kaum nachvollziehen, was wirklich los ist. Auf den ersten Blick scheint vieles normal. Die Straßen und Märkte sind bunt und lebendig. Aber wenn man mit Irakern ins Gespräch kommt, ist die Verzweiflung deutlich zu spüren. Ich habe Leute getroffen, die plötzlich anfingen zu weinen, weil sie die Situation kaum noch ertragen.

Kann ein Rückzug der Besatzungstruppen das Problem lösen?

Zumindest im sunnitischen Teil wird der sofortige Abzug natürlich gefordert. Aber das würde voraussetzen, dass an ihre Stelle ein anderes effektives Instrument treten müsste, etwa eine starke UNO-Präsenz. Doch das halte ich derzeit für eine Illusion. Die USA haben eine Situation herbeigeführt, in der blutiger Bürgerkrieg droht.

Im Süden Iraks scheint die Lage – nach den Meldungen zu urteilen – aber relativ stabil zu sein.

Abgesehen davon, dass auch dort Todesschwadronen morden und es für Frauen diese »Stabilität« nicht gibt, ist die äußere Ruhe negativen Entwicklungen geschuldet. So werden die großen schiitischen Städte inzwischen von privaten fundamentalistischen Milizen beherrscht, die von Iran gesteuert werden. Viele Sunniten sprechen in diesem Zusammenhang schon von einer zweiten Besatzungsmacht.

Das wird zugelassen?

Es ist den britischen Streitkräften offen gesagt worden, dass sie sich in den Städten nicht sehen lassen sollen. Und auch die US-Amerikaner setzen sich nicht mit dem Problem auseinander, weil sie damit die Unterstützung der schiitischen Parlamentsmehrheit verlieren würden. Doch der Fundamentalismus beginnt das Land zu zerstören. Daher muss endlich die ganze und widerspruchsvolle Wahrheit gesagt und auf deren Grundlage über Alternativen nachgedacht werden.

Wie könnten solche Alternativen aussehen?

Die Internationale Gemeinschaft muss darauf drängen, dass alle Bevölkerungsgruppen am politischen Prozess beteiligt werden. Und sie muss endlich die vorhandenen demokratischen Kräfte in das Zentrum der Unterstützung stellen. Natürlich hoffen Schiiten und Kurden nach jahrzehntelanger Unterdrückung auf eigene Möglichkeiten. Aber ohne die Integrität Iraks würde es zum Bürgerkrieg kommen, der die ganze Region destabilisiert.

Was können die Europäer tun?

Die US-Amerikaner hatten 2003 kein Konzept, sie haben bis heute keines. Und bei den Europäern sieht es nicht besser aus. Kaum jemand setzt sich für demokratische Parteien, Gewerkschaften oder Frauenorganisationen ein. Im Gegenteil: Es wird geduldet, dass sie immer mehr aus dem gesellschaftlichen Leben verdrängt werden. Die USA und ähnlich die Europäische Union setzen allein auf die schiitischen und anderen Machtgruppen, nicht auf die demokratischen Kräfte und auch nicht auf die notwendige wirtschaftliche und soziale Entwicklung.

Was werden Sie als Europaabgeordneter unternehmen?

Ich werde darauf drängen, dass das EU-Parlament bei den Wahlen im Dezember nicht wieder abstinent bleibt. Ich habe eindeutige Beweise für übelste Manipulationen gegen gemäßigte Kräfte in der Provinz Diyala mitgebracht. Sicher ist eine solche Beobachtermission nicht ungefährlich, aber es lässt sich alles verantwortungsvoll organisieren, wenn man mit den Leuten an Ort und Stelle zusammenarbeitet.

Fragen: Stefan Mentschel

Quelle:
Neues Deutschland