Kein Nachlassen im Kampf gegen die Bolkestein-Richtlinie! – Artikel erschienen in „Betrieb und Gewerkschaft“, Ausgabe Mai 2005
Lange wirkte die europäische Gewerkschaftsbewegung nicht mehr so stark wie am 19. März. Mehr als 60.000 Menschen trugen einen bunten Wald aus Fahnen und Transparenten gegen die drohende Abschleifung der Sozialstandards in den Dienstleistungsberufen durch Europas Machtzentrum. Von Rumänien bis Portugal, von Italien bis Skandinavien hatten sie den langen Weg auf sich genommen, um im Vorfeld des EU-Frühjahrsgipfels eine Zeitenwende in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu fordern.
Wohl am beeindruckendsten war der endlos wirkende Vorbeimarsch der französischen Gewerkschaft CGT, die Gruppen aus allen Landesteilen Frankreichs mobilisieren konnte. Bedingt durch die halbherzige Mobilisierung der deutschen Gewerkschaften und wohl auch einiger Schwierigkeiten in der PDS, hätten es hingegen aus dem östlichen Nachbarland Belgiens gern ein paar Tausend mehr Menschen sein dürfen.
Europaweit aufgerufen hatten neben dem Europäischen Gewerkschaftsbund auch attac und eine Vielzahl weiterer Organisation, die diese größte Demonstration für ein gerechteres Europa seit Amsterdam 1997 bereits auf dem Europäischen Sozialforum in London vereinbart hatten.
Die Dienstleistungsrichtlinie wird vielen in ihrem Protest immer mehr zum Synonym für eine falsche Ausrichtung der Entwicklung der Europäischen Union. Um Art und Ausmaß dieser Entwicklung zu analysieren, hatte die Linksfraktion im Europäischen Parlament, die GUE/NGL gemeinsam mit attac bereits am Vortrag zu einer Konferenz ins EP eingeladen. Mehr als 300 Gäste aus ganz Europa folgten der Einladung und füllten den nach dem Plenarsaal größten Saal, der im Parlament überhaupt zur Verfügung steht. Daran wird auch deutlich, dass die Akzeptanz der Linksfraktion als wichtiger Ansprechpartner im Europaparlament für die sozialen Bewegungen immer größer wird.
Eine wichtige Gemeinsamkeit fast aller Beiträge war die Symbolträgerschaft der Liberalisierungsrichtlinie. Ein gemeinsamer Kampf für die Einführung und Anhebung europäischer Sozial- und Umweltstandards erwächst aus dem gemeinsamen Kampf gegen die Bolkestein-Richtlinie als einem Gesetzesvorhaben, das wie kein anderes unter dem Deckmantel der Wachstumsförderung die Schutzsysteme in den Mitgliedstaaten gegeneinander ausspielen und als reine Kostenfaktoren in einen gnadenlosen Wettlauf nach unten stürzen will.
In der französischen Bevölkerung hat die Richtlinie inzwischen einen so hohen Symbolwert erreicht, dass sie – gemeinsam mit dem EU-Vorhaben zur Verschlechterung der Arbeitszeitbestimmungen – eine Mehrheit zu einem „Non“ im Verfassungsreferendum am 29. Mai provozieren könnte. Auch in den Niederlanden, die 2 Tage später abstimmen werden, tendiert laut Umfragen inzwischen eine Mehrheit zur Ablehnung und würde von einem entsprechenden Ausgang in Frankreich sicherlich weiter inspiriert werden.
Es ist diese große Sorge, die auf dem vergangenen EU-Gipfel Chirac und Schröder öffentlichkeitswirksam verkünden ließ, sie hätten die Dienstleistungsrichtlinie gestoppt. Dabei hat sich faktisch nichts geändert. Das Gesetzgebungsverfahren nimmt weiter seinen geplanten Lauf. Rat und Kommission werden also abwarten, ob und welche Änderungsanträge das Europäische Parlament an die Richtlinie stellen wird. Erst dann werden sie prüfen, ob sich und welcher Handlungsbedarf daraus für sie ergibt. So analysierte die Wirtschaftsliberale Gazeta Wyborzca in Polen richtig: „Der Kampf für die Liberalisierung des Dienstleistungsmarktes ist noch nicht verloren.“
Sollten die Ratsstrategen die Referenden in Frankreich und den Niederlanden mit einem blauen Auge überstehen, so ist zu befürchten, dass sich die von Verheugen und anderen Kommissaren, von der britischen, der irischen und fast allen Regierungen der neuen Mitgliedsstaaten befürwortende Haltung zur Richtlinie wieder durchsetzt und das derzeitige „Schweigegebot“ aufgehoben wird.
Was dann folgt, wäre ein Ringen um Ausnahmeregelungen für einzelne Sektoren je nach Wichtigkeit der Wählerklientel, jedoch unter grundsätzlicher Beibehaltung des Herkunftslandprinzips als dem „Konkurrenzmotor“ im Kern der Richtlinie.
Für die PDS und ihre inzwischen zahlreichen Mitstreiterinnen bleibt es daher wichtig, in diesem Entscheidungskampf nicht nachzulassen und sowohl auf kommunaler Ebene weiter zu informieren, wie auch auf den verschiedenen parlamentarischen Ebenen und in Richtung auf die Bundesregierung den Druck nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern weiter zu verstärken. Und dies im wichtigen Wissen um die europäische Dimension dieses Widerstandes, der auch die Beschäftigten in den neuen Mitgliedstaaten umfasst, die nicht in den Sog einer in Richtung der Staaten vor den EU-Grenzen immer weiter nach unten führenden Konkurrenzspirale geraten wollen.