Ein „Nein“ würde den Raum für eine echte Debatte öffnen – Interview erschienen in französischer Sprache in „Ouest-France“, 10. Mai 2005

Der Deutsche Helmuth Markov (1) ist Europaabgeordneter der PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus, hervorgegangen aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands der DDR). Er erläutert, warum er gegen den Entwurf der Europäischen Verfassung ist, über die in Frankreich mit einem Referendum abgestimmt wird. Die PDS und etwa zwanzig Christdemokraten sind die einzigen Gegner des Vertrages im deutschen Bundestag, der sich am Donnerstag positionieren wird.

Sie kritisieren die Europäische Verfassung. Sie enthält jedoch auch Fortschritte.

Dessen bin ich mir bewusst. Es gibt in diesem Text positive Elemente. Die Stärkung von Demokratie auf europäischer und lokaler Ebene, die Möglichkeit des Bürgerbegehrens mit einer Million Unterschriften sind Fortschritte.

Welche Elemente also haben Sie zu einem Nein bewogen?

Zwei Punkte erscheinen mir besonders negativ. Erstens schreibt dieser Text – was in keiner anderen Verfassung der Fall ist – ein Wirtschaftssystem fest, und zwar ein Wirtschaftssystem, das auf freiem Wettbewerb basiert und Europa zwangsläufig eine liberale Orientierung verleiht. Das ist für mich inakzeptabel. Zweitens wird eine europäische Armee aufgebaut, ohne dem Parlament Mitspracherechte zu geben. Auch das ist inakzeptabel. Im Abwägungsverfahren überwiegen meiner Ansicht nach diese beiden Elemente gewisse positive Aspekte der Verfassung. Es ist also ein wohldurchdachtes „Nein“.

Verfolgen Sie die Debatte in Frankreich?

Ja, mit großem Interesse. Ich bin ehrlich gesagt beeindruckt davon, wie die Debatte in Frankreich verläuft. In welchem anderen Land in Europa finden wir ein solches Engagement? So viele Menschen sind interessiert, lesen die Verfassung, gehen zu Diskussionsveranstaltungen, hören sich die Argumente beider Seiten an, wollen Erklärungen. Das ist phantastisch! Weder in Deutschland, noch in einem anderen Land in der Europäischen Union haben wir eine solche Debatte gehabt. (2) Leider.

Denken Sie, dass die Debatte in Frankreich Konsequenzen haben wird?

Ja. Wie auch immer das Ergebnis aussehen wird, es hat eine echte gesellschaftliche Debatte gegeben, eine echte Befragung der Bürger. Nicht allein zur Form, sondern zum Inhalt der Verfassung – und zu der Grundfrage: welches Europa wollen wir?

Wenn das „Nein“ gewinnt, werden damit andere Entwicklungen möglich?

Das französische Nein ist kein antieuropäisches Nein, wie es manche glauben machen wollen. Frankreich stand immer im Zentrum der europäischen Integration. Man kann nicht sagen, dass das ein nationalistisches oder regionalistisches Votum wäre. Aber man wird nachdenken müssen, sich fragen müssen, warum die Franzosen mit „Nein“ gestimmt haben. Damit hätten wir eine Debatte auf europäischer Ebene, eine wirkliche Diskussion über europäische Fragen. Mit einem „Nein“ könnte Frankreich den Raum für eine Debatte eröffnen, wie sie in den vergangenen 50 Jahren noch nie stattgefunden hat. Das ist nicht das Ende Europas, beileibe nicht! Im Gegenteil.

Das Interview führte Nicolas Gros-Verheyde.

(1) 52 Jahre alt, wurde 1999 zum ersten Mal ins Europäische Parlament gewählt. Nach seinem Ingenieurstudium am Polytechnischen Institut Kiew, das er 1976 als Diplomingenieur verließ, war er Chef der Technologieabteilung für Elektronenstrahltechnik und ab 1990-99 Abgeordneter des Brandenburger Landtags.

(2) In der Bundesrepublik wird der Vertrag über die europäische Verfassung durch die beiden Versammlungen ratifiziert: durch den Bundestag am 12. Mai, durch den Bundesrat am 27. Mai.