EU-Verfassung: Wie weiter?

Nach dem negativen Votum in den Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden verzögert sich der Ratifizierungsprozess nun auch in anderen EU-Staaten. Europäische Kommission und nationale Regierungen wollen Zeit gewinnen, um das Debakel zu analysieren und einen Plan B zu entwerfen. Eine von der Kommission in Auftrag gegebenen Studie (http://www.europa.eu.int/comm/public_opinion/index_en.htm) kommt zu der eindeutigen Aussage, dass das „Nein“ in Frankreich und den Niederlanden kein antieuropäisches Nein ist, da über 80 Prozent der Befragten in beiden Ländern die EU-Mitgliedschaft positiv bewerten. Vielmehr wurden sozioökonomische Erwägungen voran gestellt – insbesondere in Frankreich wurde der Verfassungstext als zu neoliberal, verheerend für die Beschäftigung und unsozial eingeschätzt. Mehr als 60 Prozent der Befragten in den Ländern äußerten die Hoffnung, dass eine Ablehnung des Vertrages zur Neuverhandlung über diesen und zu einer sozialeren Ausrichtung des Textes führen.

Es wäre naiv zu glauben, Rat und Kommission würden ernsthaft darüber nachdenken, wie der EU mit einer Neuausrichtung wieder an Legitimität bei Bürgerinnen und Bürgern gewinnen könnte. Im Gegenteil. Am alten neoliberalen Kurs soll unbeirrt festgehalten werden, die „Modernisierung des europäischen Sozialmodells“ und die großen Liberalisierungsprojekte wie Dienstleistungs- und Arbeitszeitrichtlinie stehen erklärtermaßen ganz oben auf der Agenda der aktuellen britischen Ratspräsidentschaft.

Doch auch andere Stimmen werden laut. Die schwedische Vizepräsidentin der EU-Kommission, Margot Wallström, hat eingeräumt, dass das soziale und wirtschaftliche Klima eine wichtige Rolle bei den Referenden gespielt hat und daher dringend der Dialog mit den Bürgern gesucht werden muss. Sie nennt es Plan D: Demokratie und Dialog. In Frankreich hat die bürgerliche Regierung als Konsequenz aus dem Referendum ein öffentliches Beschäftigungsprogramm angekündigt, mit dem 120.000 Arbeitsplätze in Krankenhäusern, Schulen und Altersheimen geschaffen werden sollen. Zudem werden 350.000 Stellen im öffentlichen Dienst, die ursprünglich abgebaut werden sollten, erhalten. Die Regierung will von jetzt an monatlich Gesetzesprojekte der EU-Kommission prüfen und „zu vermeidende“ Gesetze orten, wozu sie interessanterweise auch die Dienstleistungsrichtinie zählt.

Die europäische Linke muss die entstandene Denkpause nutzen, um ihre Vorstellungen und Pläne zu konkretisieren und offensiv zu verbreiten. Selten bestand die Möglichkeit, eine breite Öffentlichkeit zur Diskussion über ein Europa, das wir wollen, zu bewegen. Den Auftakt dafür bildete ein von unserer Fraktion mitorganisiertes Treffen am 24. und 25. Juni in Paris. Dort trafen sich Vertreter/innen linker Parteien, Gewerkschaften und Bewegungen aus 20 Ländern und verständigten sich über das weitere Vorgehen. Ziel aller künftigen Aktivitäten ist es, das Bündnis progressiver Kräfte gegen neoliberale Politik in Europa auszubauen. In Frankreich sind durch die in der Referendumskampagne entstandenen lokalen „Comités du Non“ bereits geeignete Infrastrukturen geschaffen worden, die Vorbild für weitere EU-Länder werden könnten. Die Komitees erfreuen sich auch nach dem Referendum wachsenden Zulaufs und sind die ideale Struktur für eine offene Zusammenarbeit progressiver Kräfte der unterschiedlichsten Provenienz: engagierte Bürgerinnen und Bürger ohne Organisationszugehörigkeit, NGOs, Netzwerke, Gewerkschafter/innen, Parteimitglieder aus dem kommunistischen, trotzkistischen, grünen und sozialdemokratischen Spektrum.

Das Pariser Treffen hat konkrete inhaltliche und zeitliche Eckpunkte formuliert. Die Teilnehmer/innen riefen zu einer breiten politischen Debatte zum Aufbau eines sozialen, demokratischen und ökologischen Europas auf, mit dem Ziel, ein Manifest oder Charta der sozialen, demokratischen und ökologischen Rechte in einem Europa nach unserer Vorstellung zu erarbeiten. Zwei zentrale Termine sind hierbei das ESF-Vorbereitungstreffen vom 23. bis 25. September in Istanbul und der geplante Bürgerkonvent „Für ein anderes Europa“ am 12. und 13. November in Rom.

Geplant ist weiterhin eine europaweite Petition mit symbolischen 1 Million Unterschriften für einen grundlegenden Kurswechsel in der europäischen Politik: für eine gerechte Verteilung von Reichtum; für den Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung; für Umweltschutz; für eine neue Rolle von EZB und Stabilitätspakt; für die Verteidigung und den Ausbau öffentlicher Dienste; für Geschlechtergleichheit; für Immigrant/innenrechte und für Lebensmittelsouveränität als Grundrecht.

Im Zentrum der Aktivitäten steht die Mobilisierung gegen die Dienstleistungs- und die Arbeitszeitrichtlinie – zentraler Aktionstag ist der 15. Oktober. Der Kampf gegen die beiden Richtlinien muss als Meilenstein im Kampf gegen neoliberale Politik gewertet werden, eine breite europaweite Mobilisierung ist daher wichtig. Im Dezember stehen mit dem Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel und der WTO-Ministerkonferenz in Hongkong zwei weitere Termine an, die von massiven Aktionen begleitet sein werden.

Die EU ist in ihren Grundfesten erschüttert. Nutzen wir also diese Krise, um die EU nach den Vorstellungen der Europäerinnen und Europäer umzugestalten. Sie wollen die EU, aber eine EU, die das Vertrauen und die Unterstützung ihrer Bürgerinnen und Bürger verdient.

Quelle:
Betrieb & Gewerkschaft, September 2005