Die Charta als Augenpulver – ND-Serie zur EU-Verfassung
Bei der Abwägung, ob man sich am Ende für oder gegen den Verfassungsvertrag entscheiden soll, spielt bei Kritikern – die sich etwa an der mit der Verfassung einhergehenden Militarisierung stören – die Aufnahme der Grundrechtecharta in den Vertrag nicht selten eine entscheidende Rolle. Die Grundrechtecharta war in einem eigenen Konvent im Jahre 2000 ausgearbeitet und auf dem EU-Gipfel im Dezember des gleichen Jahres »feierlich proklamiert« worden, ohne jedoch in Kraft zu treten. Erst als Teil II des Verfassungsvertrages soll sie anwendbar werden.
Die Integration der Grundrechtecharta in den Verfassungsvertrag stellt in der Tat einen Fortschritt bei der Verankerung demokratischer und sozialer Grundrechte dar. In ihr finden sich etwa das »Verbot der Diskriminierung« (Art. II-81), die Forderung nach »Gleichheit von Männern und Frauen« (Art. II-83)und das »Recht auf Zugang zu Dokumenten« (Art. II-102) als Bürgerrecht.
Wichtige soziale Grundrechte sind hingegen nur schwach ausgeprägt. Statt eines Rechts auf Arbeit wird nur »das Recht zu arbeiten« (Art. II-175) proklamiert. Das ursprünglich einmal vorgesehene europäische Streikrecht wird von nationalem Recht abhängig gemacht (Art. II-88), wodurch legale grenzüberschreitende Streiks in der EU weiterhin praktisch unmöglich sind. Angesichts der Verflechtung der europäischen Industrie ist dies ein entscheidendes Manko.
Vergeblich sucht man in der Charta auch ein dem Grundgesetz entsprechendes Sozialstaatsgebot oder gar einen Sozialisierungsartikel. Stattdessen ist ein Grundrecht der »unternehmerischen Freiheit« (Art. II-76) aufgenommen worden.
Welche Wirkung die Charta als Teil des Verfassungsvertrages tatsächlich entfalten kann, ergibt sich aber nicht allein aus dem Wortlaut der einzelnen Grundrechte. Mit verschiedenen Bestimmungen und Protokollen ist die Bedeutung derChartaschon während der Arbeit des Verfassungskonvents, vor allem aber in der darauf folgenden Regierungskonferenz immer weiter eingeschränkt und verwässertworden. Da gibt es etwa den Artikel II-113, wonach »keine Bestimmung dieser Charta als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen« ist. Die Grundfreiheiten sind bekanntlich die urliberalen Rechte des freien Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehrs.
Da gibt es zudem den Artikel II-111 Abs. 2, in dem es heißt: »Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, (…).« Was nichts anderes bedeutet, als dass so manche schöne Grundrechte – etwa der Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst (Art. II-98), das Recht auf Bildung (Art. II-74), die Rechte älterer Bürger (Art. II-85) oder die Bestimmungen zum Familien- und Berufsleben (Art. II-93) – ins Leere laufen, da entsprechende Zuständigkeiten der Union hier eben nicht vorhanden sind.
Und da gibt es vor allem die so genannten Erläuterungen, ein Text von knapp 50 Buchseiten, der eine Art Kommentar darstellt. Diese Erläuterungen verhindern eine weite und offene Auslegung der Grundrechte. Als Erklärung Nummer 12 wurden die Erläuterungen als offizielles Dokument dem Verfassungsvertrag beigefügt.
Francis Wurtz, der Vorsitzende der linken Fraktion im Europäischen Parlament, bewertet die Aufnahme der Charta denn auch wie folgt: »Es ist alles getan worden, um ihre eventuelle Tragweite maximal zu reduzieren. Sie wird vorgeschoben, um die vorgeblichen Fortschritte zu veranschaulichen, die angeblich weit genug gehen, um die neoliberale Natur des Vertrages aufzuwiegen. Leider muss gesagt werden, dass diese Charta ganz im Sinne der Initiatoren des Verfassungsvertragsprojektes vor allem darauf zielt, die bittere Pille des Teils III (des Verfassungsvertrages) herunterzuspülen, die eine wahrhafte ultraliberale Gebetsmühle darstellt. Die Charta ist im Wesentlichen Augenpulver.«
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe des Neuen Deutschland vom 1. April 2005