Weg mit der Bolkestein-Richtlinie! – Artikel erschienen in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ am 18.03.05
Glaubt man der Europäischen Kommission, verfolgt die vom ehemaligen Binnenmarktkommissar Bolkestein vorgelegte Dienstleistungsrichtlinie ausschließlich hehre Ziele. Es gehe darum, bürokratische Hürden und Hindernisse zu beseitigen, die dem freien Dienstleistungsverkehr in der EU im Wege stünden und insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen das Leben schwer machten, heißt es. Mindestens 600.000 Arbeitsplätze könnten so europaweit entstehen, Wachstum und Produktivität einen neuen Schwung erhalten. Der Verbraucher werde zudem von wachsender Auswahl und sinkenden Preisen profitieren.
Die Legenden gleichen sich. Schon das Projekt des Europäischen Binnenmarktes als solches wurde Ende der Achtziger mit dem Versprechen eines Wachstumsschubs und einem Potential von angeblich 5,7 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen populär gemacht. Auch die Liberalisierung der europäischen Post-, Energie-, Finanz- und Telekommärkte erfolgte angeblich immer nur im Interesse von Beschäftigten und Verbrauchern.
Die Ergebnisse sehen anders aus. Marktöffnung, Deregulierung und Privatisierung haben weder Arbeitsplätze geschaffen noch die europäische Wirtschaft verbraucherfreundlicher gemacht. Im Gegenteil. In jeder Privatisierungsrunde wurden tausende Jobs vernichtet, im Falle der Post waren es 130.000, bei Strom und Gas 80.000. Trotz drastischer “Kostenreduzierungen” dieser Art sind die Preise in den betreffenden Bereichen aber keineswegs gefallen, wie ein Blick auf die monatliche Stromrechnung oder die aktuelle Paketgebühr zeigt. Was die europaweite Liberalisierung tatsächlich stimulierte, waren nicht Investitionen, sondern Übernahmen und Fusionen, und damit Marktbeherrschung und steigende Profite. Im Ergebnis werden viele Güter und auch einst öffentlich garantierte Leistungen heute von privaten Konzerngiganten angeboten und hochrentabel ausgebeutet.
Gerade weil der Binnenmarkt mit Blick auf deren Gewinne tatsächlich ein Erfolgsprojekt ist, verwundert es nicht, dass von dieser Seite Druck gemacht wird, sämtliche Bereiche, die bisher ausgeklammert blieben, in den Deregulierungs- und Privatisierungswahn einzubeziehen. Der europäische Wassermarkt beispielsweise ist fürs private Kapital bisher nur begrenzt geöffnet und gilt als hochlukrativ. Sehr unterschiedlich sind die Regelungen in den Mitgliedstaaten auch in Bereichen wie Gesundheit und Altenpflege, Bildung oder Müllentsorgung.
Hier soll die Dienstleistungsrichtlinie Abhilfe schaffen. Dabei sollen die Kommunen nicht nur mittels Ausschreibungszwang (Artikel 12) de facto zur Privatisierung verpflichtet, sondern ihnen gleichzeitig alle Hebel aus der Hand geschlagen werden, private Geschäftstätigkeit auch nur vernünftig zu regulieren. Verboten werden sollen beispielsweise Eingriffe in die Preisgestaltung privater Unternehmen, also die Festlegung von Höchstpreisen oder auch das Verbot von Dumpingpreisen. Gleiches gilt für Mindestbeschäftigtenzahlen. Die Reservierung bestimmter Bereiche für non-profit Unternehmen wäre nach Inkrafttreten der Richtlinie schlicht rechtswidrig. Also freie Bahn dem freien Kapital: wo immer es sich guten Ertrag verspricht. Und wo nicht, wo also der Bedarf nicht hinreichend zahlungskräftig ist, wird es eben in Zukunft keine Leistung mehr geben.
Der Schaden, den die Richtlinie anrichten würde, beschränkt sich indes nicht auf die Zerstörung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Vielmehr soll sie für etwa 50 Prozent der europäischen Wirtschaft gelten, also für wirtschaftliche Tätigkeiten vom Baugewerbe über Unternehmensberatung und Handel bis zur Zeitarbeitsvermittlung. Und auch im Bereich der bereits heute überwiegend privat angebotenen Leistungen ist sie ganz auf die Bedürfnisse multinational tätiger Dienstleistungskonzerne zugeschnitten. Dies vor allem aufgrund des geplanten „Herkunftslandprinzips“. Sofern Unternehmen ihre Leistungen im Rahmen des “freien Dienstleistungsverkehrs” anbieten, sollen künftig für sie EU-weit nur noch die Standards ihres Heimatlandes gelten – beziehungsweise des Landes, in dem sie es für opportun halten, den Briefkasten mit ihrer Hauptadresse anzumelden.
Die Konsequenz liegt auf der Hand. Bauunternehmen, die gross und agil genug sind, werden ihren Firmensitz in das EU-Land verlegen, in dem kostspielige Vorgaben am niedrigsten sind, und dann EU-weit mit Billigofferten ihre Konkurrenten ausstechen. Private Zeitarbeitsvermittler werden von Vilnius bis Neapel expandieren und tausend Kniffe finden, die nationalen Lohn- und Sozialstandards obsolet zu machen. Vermutlich werden nicht wenige Firmen auch ihre “Heimat”-Vorschriften ignorieren, denn der besondere Charme der Richtlinie besteht darin, den Ländern nicht nur die Anwendung ihrer eigenen Gesetze, sondern auch jegliche Kontrolle der auf ihrem Territorium tätigen ausländischen Anbieter zu untersagen. Auch die obliegt ausschliesslich dem sogenannten Herkunftsland, das weder Interesse noch Kapazitäten dafür haben dürfte.
Kleineren Unternehmen dürfte es dagegen schwerer fallen, ihre offizielle Residenz beliebig nach Riga oder Porto oder wo immer es sich sonst auszahlen mag, zu verlagern. Ablehnung schlägt dem Richtlinienentwurf daher keineswegs nur von seiten der europäischen Gewerkschaften, sozialer Organisationen oder des Rates der Gemeinden und Regionen Europas entgegen. Zu den Kritikern gehört auch der Dachverband der europäischen Klein- und Mittelbetriebe UEAPME, der mit Grund befürchtet, dass die Anwendung des Herkunftslandprinzips in Europa eine Situation „unfairen Wettbewerbs“ heraufbeschwören würde, da dann faktisch in jedem Land 25 Rechtsordnungen gleichzeitig gelten. Dass dieses einen gnadenlosen Dumpingwettlauf in Fragen von Arbeinehmerrechten, Schutzbestimmungen, Qualitäts- und Umweltstandards auslösen würde, läßt sich leicht ausmalen.
Die vorliegende Richtlinie ist eine Kriegserklärung gegen alles, was an sozialen Rechten in der europäischen Union die bisherigen Bemühungen der Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung noch überlebt hat. Sie ist im Ansatz falsch und genau deshalb auch nicht durch kleine Korrekturen zu verbessern.
Was Not tut, ist vielmehr eine breite europaweite Bewegung des Widerstands. Im Herbst letzten Jahres demonstrierten einige tausend Menschen in Brüssel gegen Bolkesteins Machwerk. Am morgigen Sonnabend werden es hoffentlich viele Zehntausende sein. Denn auch wenn inzwischen die luxemburgische Ratspräsidentschaft vor „Sozialdumping“ warnt und im Europäischen Parlament Kritik lauter wird: allein auf der Ebene von Rat und Parlament wird es nicht gelingen, den Generalangriff der Konzerne zurückzuweisen. Dazu braucht es einer Bewegung außerhalb der Parlamente, die stark genug wird, tatsächliche Änderungen zu erzwingen.